"Die Welt verdient keinen Weltuntergang": Peter Hamm:Vom sanften Gebot

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Von Nelly Sachs als "junger Bruder" begrüßt: Peter Hamm, 1937 geboren, starb 2019 am Starnberger See. (Foto: Jürgen Bauer/SZ Photo)

Auch ein Rückblick auf die goldenen Zeiten der Kritik: Gesammelte Texte des Dichters und Schwärmers Peter Hamm über Literatur.

Von Willi Winkler

Wenn er las, so berichten es Zeitzeuginnen, wurde der Dichterjüngling angeschwärmt: die wie italienische Erscheinung, die Vortragskunst, diese Stimme und diese Verse, die sich so kennerstolz klein machten: "eines abends müssen sie wissen machten / sich alle dinge von mir los müssen sie wissen wortlos / machten sich los müssen sie wissen machten mich wort- / los müssen sie wissen selbst die luft machte einen / bogen um mich herum selbst jarry dali ginsberg duncan"

Peter Hamm war erst neunzehn, als er 1956 bei der Gruppe 47 auftrat, wo er den zehn Jahre älteren Günter Grass kennenlernte, der die Gedichte des Konkurrenten kurz und - wie der Autor nach Jahrzehnten zugeben konnte - nicht ganz falsch als "Mischung aus Stefan George und Kurt Schwitters" abfertigte. Hamm hatte zwei Jahre zuvor fast gleichzeitig in Sinn und Form und in den Akzenten debütiert, in Ost- sogar noch vor Westdeutschland. Aus der unglücklichsten Kindheit floh er in die Dichtung und korrespondierte mit Paten wie Wieland Herzfelde in Ostberlin und Paul Celan in Paris. In scheuer Verehrung trampte er nach Stockholm zu Nelly Sachs, die ihn neben der "Schwester-Freundin" Ingeborg Bachmann als "jungen Bruder" begrüßte.

Mit Grass verband den jüngeren Bruder wenig außer der "amtlich bestätigten Unreife", denn beide waren Schulgescheiterte, kämpften sich aber auch ohne Abitur in die Kultur und blieben Autodidakten ihr Leben lang. Grass gab den fabulösen Lyriker Grass auf, wurde dafür der bekannteste deutsche Autor, weltmarktfähig seit der "Blechtrommel" und gefürchtet als allzeit einsatzbereiter Politikberater. Hamm veröffentlichte insgesamt fünf Bände mit Gedichten, anfangs, wie er selber sagte, voller "Trakl-Trunkenheit", später im Bann von Brecht & Benn, nie ganz Ginsberg und schon gar nicht Alfred Jarry. Irgendwann wusste er, was er war, und nannte sich einen "Nachhall-Dichter". "Poesie, man kann es nicht oft genug wiederholen", schrieb er einmal, "entsteht durch Nachahmung, Poesie entsteht auch durch Poesie."

Der Kritiker Hamm wollte nicht als Kritiker gelten, er war ein Sentimentalist

So wurde der Dichter doch Redakteur. 38 Jahre wirkte Peter Hamm beim Bayerischen Rundfunk. So konnte er sich auf "seine Art der historisch fundierten Literaturkritik" verlegen, wie Michael Krüger Hamms Arbeit charakterisiert. Krüger hat jetzt für den vor zwei Jahren verstorbenen Freund eine Auswahlausgabe von dessen Aufsätzen, Laudationes und Rezensionen zur Literatur und damit sogar eine kleine Literaturgeschichte vorgelegt.

Der Band bietet keinen großen Ausblick und auch nicht sonderlich viel Gegenwart, sondern überwiegend den Blick zurück, als die Literaturkritik sich noch nicht vollständig dem saisonalen Druck der Verlage unterworfen hatte und in der Zeit noch Platz war für anlasslose Großessays. Selbst der Spiegel brachte es einst fertig, wenn auch erst nach einer Intervention des Herausgebers Rudolf Augstein, Hamms umfangreiche Eloge auf Paul Valérys "Cahiers" zu drucken. In seiner Erinnerung an Grass, die genau in der Mitte des Bandes platziert ist, erwähnt Hamm beiläufig, wie in Cannes bei den Filmfestspielen sein Förderer Augstein "in bereits bacchantischer Laune" im Restaurant auftauchte und beim Anblick Jeanne Moreaus "sich mit gefalteten Händen vor ihr auf die Knie warf und dabei das Bild eines verzückten Pilgers am Ende seiner Wallfahrt bot".

Im Nachwort spricht Krüger davon, wie schwer jede Auswahl aus fast sechzig Jahren Literaturbegleitung fallen muss. Der Kritiker Hamm wollte nicht als Kritiker gelten und war ein unerschrockener Sentimentalist. Keiner konnte so ergriffen über Christine Lavant schreiben, über Robert Walser schwärmen, Sarah Kirsch anhimmeln oder Zbigniew Herbert verehren. Doch würde die späte Neigung zum Reinhold-Schneider-Katholizismus leicht die schöne Aggressivität der frühen Jahre verdecken.

Der Großkritiker, der er selber noch nicht war, würde "als Instanz auftreten statt als Person"

Hamm verbrachte manche Andachtsstunde über dem Werk Ingeborg Bachmanns, was ihn aber nicht hinderte, den Heidegger-Wallfahrer Paul Celan einen "maßlosen Masochisten" zu nennen. Neben Jean Améry war Hamm einer der wenigen, die sich nicht damit abfinden wollten, wie der Literaturkritiker Hans Egon Holthusen 1966 seine Jugend bei der SS im Merkur nachfeierte. Ehe er zu seinem treuesten Begleiter wurde, geißelte er Peter Handke in konkret als "neuesten Fall deutscher Innerlichkeit". Unerschrocken kritisierte er den Suhrkamp-Verlag wegen zensierender Eingriffe in der Brecht-Werkausgabe und Adorno, weil er der Nachwelt Walter Benjamin nur gestutzt darbieten wollte.

In einem Band "Kritik / von wem / für wen / wie" (1968) unterstellte Hamm dem Großkritiker, der er da selber noch nicht war, er würde "als Instanz auftreten statt als Person", und forderte stattdessen - es war ihm später doch etwas peinlich - "dialektisch-materialistisch statt idealistisch reagierende und argumentierende Kritiker". So einer wurde er nie, lieber war er der Schwärmer. Seine Kollegen beim Rundfunk konnten nicht begreifen, wie jemand ein halbes Jahr freinehmen und damit einen Teil der fürstlichen Alterssicherung einbüßen wollte, um einen Film über Robert Walser zu drehen, den Dichter, den sie doch kaum kannten. Hamm war er neben Fernando Pessoa der liebste.

Peter Hamm: Die Welt verdient keinen Weltuntergang. Aufsätze und Kritiken. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Michael Krüger. Göttingen: Wallstein 2021, 340 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Als Hamm nur drei Jahre nach seinem Angriff Handkes "Kurzen Brief zum langen Abschied" im Spiegel unter der Überschrift "Jetzt kann er ich sagen" feierte, redete er wie jeder gute Kritiker schamlos von sich selber und trat endlich als Person auf. Ein Dichter befreite ihn damals vom spät gelernten Marxismus, der eisenharten Brecht- und Benjamin-Schule, dem ganzen Getue mit "Ideologie" und dem "spätbürgerlichen Bewusstsein". Thomas Bernhard und Herbert Achternbusch halfen mit.

Mit den Jahren wurde Hamm Teil des Literaturbetriebs und unvermeidlich milder, er lobte dann auch den Größten von gleich zu gleich, wunderte sich aber vernehmlich über die "so radikal unauffällige Prosa" von Marcel Reich-Ranickis Memoiren. Solche Fußtritte - gegen Hans Magnus Enzensberger, gegen Karl Heinz Bohrer - erlaubte er sich weiterhin, wenn er auch sonst dem sanften Gebot zu folgen schien. Dann und wann wagte er dennoch eine Zuspitzung, um die ihn jeder Tagesgeschäftsrezensent nur beneiden kann. In Heiner Müllers Gedichten, schrieb er nach dem Tod des Autors angemessen pietätlos, stehen "die viel zu großen Wörter" herum "wie riesige Pfeiler, die nichts zu tragen haben, weshalb sie wie Trümmer wirken".

Auch wenn er am Ende den eigenen Gedichten längst nicht mehr so viel zutraute wie der 17-jährige Anfänger und die Worte einen Bogen um ihn machten, wusste er, dass es Erlösung aus der Geschichte nur in der Kunst gibt, "im Gedicht, im Schreiben". Eine Rezension der Gedichte des Italieners Umberto Saba schloss er mit dessen Grabspruch: "Pianse e capì per tutti"- er weinte und verstand für alle.

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