Paula Modersohn-Becker in Frankfurt:Entdeckerin der Moderne

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Eine große Schau in Frankfurt zeigt, wie Paula Modersohn-Becker mehr als eine neue Ästhetik erfand.

Von Kia Vahland

Das Kind drückt die Katze an sich wie ein Stofftier, und das überraschte Tier spitzt die Ohren, streckt die Vorderbeine, als habe es noch nicht entschieden, ob es sich dem Griff hingeben oder sich sträuben solle. Das wissen wir so genau, weil Paula Modersohn-Becker nur diesen Ausschnitt zeigt, den Klammergriff vor rotem Kinderkleid; man schaut der Katze in ihre weit aufgerissenen graugrünen Augen. Für einen Moment überlegt die Betrachterin, ob die Malerin vielleicht auch die Instagram-Ästhetik erfunden habe, diese knappen Close-ups, das Spiel mit der Bewegung, und das im Jahr 1903. Aber es ging ihr wohl einfach um die Dynamik, die sie wie niemand sonst mit ihrem Pinsel auszulösen vermochte, und um den locker hingetupften, wuscheligen Pelz des Tiers und die gedämpften Farben des in diesem Moment so mächtigen Kindes.

Die Kompositionen zu reduzieren, das war einer ihrer Tricks, um die Malerei in Bewegung zu bringen, zeitgleich zu und unabhängig von Pablo Picasso. "Dieses unentwegte Brausen dem Ziele zu, das ist das Schönste im Leben", schrieb Paula Modersohn-Becker ihrer Mutter im Jahr 1906, entschuldigend dafür, dass sie, Tochter aus gutem Hause, vielleicht manchmal "liebearm" wirke. Und: "Es ist ein Konzentrieren meiner Kräfte auf das Eine." Ein weibliches Genie zu sein heißt, permanent in Erklärungsnot zu geraten.

Und wie sie es schaffte, sich zu konzentrieren. Die Frankfurter Schirn zeigt in einer umfangreichen Ausstellung, wie rasant und in welch üppigen Entwicklungsschritten die Malerin im anbrechenden 20. Jahrhundert ihr Werk entwickelte und die europäische Kunstgeschichte gleich mit. Das gelang ihr im visuellen Austausch mit alter und neuer Kunst; immer wieder verließ sie die Künstlerkolonie Worpswede, wo sie mit ihrem Mann Otto Modersohn lebte, und reiste nach Paris, um durch den Louvre und die zeitgenössischen Galerien und Ateliers zu streifen. Und es gelang ihr auch, weil sie sich ganz auf ihre eigenen Ideen besann - Wünsche von Auftraggebern setzten ihr schon deshalb nicht zu, weil sie kaum welche hatte. Das hatte auch mit dem Ausschluss der Frauen aus dem akademischen System zu tun, Zeichenunterricht für Frauen etwa gab es nur in privaten Klassen.

Sie muss eine besessene Arbeiterin gewesen sein

Selbst die Mitglieder der Künstlergruppe von Worpswede, mit denen sie zusammengelebt hatte, erkannten das Bahnbrechende von Modersohn-Beckers Malerei erst nach ihrem Tod am 20. November 1907, kurz nach der Geburt einer Tochter. Kollege Heinrich Vogeler staunte, als er den Nachlass sichtete: "Alle Kleinheit fiel von ihr ab. (...) Die Visionen, die sie hatte, wuchsen ins Große und Feierliche." Hinterlassen hat die 31-Jährige 734 Gemälde und rund 1500 Werke auf Papier, das meiste in nur zehn Jahren geschaffen. Sie muss eine besessene Arbeiterin gewesen sein.

Schon in den Werken, die um die Jahrhundertwende entstanden, löst sich die in Dresden geborene, in Bremen erwachsen gewordene Künstlerin von Konventionen, den ästhetischen wie den sozialen. Ihr "Halbakt einer sitzenden Bäuerin" aus dem Jahr 1900 schichtet Erdfarben auf zum Bild einer kräftigen, gedankenverlorenen Person, in deren Körper sich harte Feldarbeit und viele Schwangerschaften eingeschrieben haben. Modersohn-Becker erotisiert die Frau nicht, karikiert sie aber auch nicht, die Landwirtin ist wie sie ist.

Überhaupt, die Mädchen und Frauen von Worpswede: Andere Maler suchen auf dem Land das Ursprüngliche, scheinbar Unverdorbene, sie verfolgen ihre eigenen Träume. Modersohn-Becker dagegen liebt ihre Modelle, vor allem die weiblichen, für deren Eigensinn. Wenn ein Landkind ihr unglücklich erscheint, in düsteren Erfahrungen gefangen, dann malt sie es auch so, in Brauntönen und mit dumpfem Blick. Wenn sie bei einer Jugendlichen einen starken Willen erkennt, dann schultert diese ihre Astgabel hoch erhobenen Kopfes wie eine Gewerkschaftlerin ihre rote Fahne. Eine alte Armenhäuslerin wird bei dieser Malerin zur bildfüllenden, würdigen Matrone. Und ein Mädchen im Volksschulalter tritt der Welt trotzig und nackt mit verschränkten Armen gegenüber. "Selbstbewusst eigenständig in ihrer rituellen Stärke" nennt der Kunsthistoriker Uwe M. Schneede die Worpsweder Bilder von Frauen ( Uwe M. Schneede: Paula Modersohn-Becker. Die Malerin, die in die Moderne aufbrach, C.H.Beck Verlag, München 2021).

Die Dringlichkeit ihrer Figuren hat Modersohn-Becker auch am eigenen Leib erkundet. Zu ihren umwerfend modernen Stücken gehören die Selbstporträts. Die Frankfurter Schau eröffnet mit einigen von ihnen. Im Jahr 1898 betrachtet sie sich in Nahsicht im Dreiviertelprofil, mit suchendem Pinselstrich, der die Konturen verwischt. Sieben Jahre später ist der Blick schon fokussierter und fixiert die Betrachterinnen und Betrachter. Schließlich erprobt sie an sich selbst Aktbildnisse, mal stehend im Spiel mit Früchten, und, in ihrer berühmtesten Schöpfung, als klar konturierte und halbnackte Frau - die schwanger ist (was Modersohn-Becker zu dem Zeitpunkt im wirklichen Leben noch nicht war).

Es ist, soweit überliefert, das erste Mal, dass eine Künstlerin sich so malt, nackt und mit Kind im Bauch, eine Frau, die gleich doppelt Leben schaffen kann: als Malerin an der Staffelei und als potenzielle Mutter in der Wirklichkeit. Und weil dieses eigentlich so naheliegende Motiv in der Kunstgeschichte so ungewohnt ist, fällt plötzlich auf, was manchen anderen Frauenakten abgeht: die Selbstverständlichkeit und die Selbstvergewisserung. Das also, was in der Renaissance Albrecht Dürer mit seinem gezeichneten Selbstakt für die Männer geleistet hat, holt Modersohn-Becker 400 Jahre später für die Frauen fulminant nach.

Es lag ein ästhetischer Aufbruch in der Luft um 1900

Modersohn-Beckers Œuvre kreist dabei nicht um sich selbst, dafür ist die Malerin viel zu neugierig. Auf den Mond, bei ihr ein Lichtblick über dunklen Feldern. Auf einen bescheidenen Strauß Feldblumen, den eine Hand vor den Himmel hält, als hätte noch nie jemand zuvor Blumen gepflückt. Auf die Pferdewagen an der Seine, deren sachten Rhythmus, den sie in schnellen Kohleskizzen festhält. Und auf die Arbeiten von Paul Cézanne, Paul Gauguin, Auguste Rodin, auf die ägyptischen Mumienbilder und afrikanischen Plastiken in den Museen; auf alle also, die sie inspirieren, ohne dass sie jemanden nachahmen würde.

Es lag ein ästhetischer Aufbruch in der Luft um 1900, nur so erklärt sich, dass mit Pablo Picasso und Paula Modersohn-Becker gleich zwei Maler unabhängig voneinander entschieden, ihre Formen, Farben und Figuren drastisch zu reduzieren, neue Bildausschnitte zu wählen, auf virtuose Dynamik statt auf ausgewogene Kompositionen zu setzen. Picasso aber, nur fünf Jahre jünger als Modersohn-Becker, starb erst 1973. Was aus der Kunst noch alles geworden wäre, hätte auch Paula Modersohn-Becker alt werden dürfen, wir wissen es nicht.

Paula Modersohn-Becker, bis 6. Februar in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt, Katalog (Hirmer Verlag): 45 Euro.

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