Otto Sander gehört zu den Schauspielern, denen sich viele immer gerne irgendwie annähern möchten, vorzugsweise in Bars bei Zigarette und Bier. Vielleicht weil die meisten, die über ihn schreiben, glauben, in diesem Mann läge so etwas wie der letzte Aufschluss über die Kunst der Wandelbarkeit verborgen; als könne ausgerechnet Otto Sander, der ja so auffällig wenig Aufhebens von sich und seinem Handwerk macht, erklären, was es mit dem Spielen und dem Nichtspielen auf der Bühne und im Film auf sich habe. Vor Jahren hat er gesagt, er verberge sich nicht hinter einem Kunstschleier. Was für ein sympathischer Satz - vor allem, weil er so falsch ist.
Denn Otto Sander spielt immer hinter einem hauchzarten Kunstschleier, da können die Liebhaber des ewig Authentischen sagen, der Mann ist so wie er ist. Und die anderen dürfen ihm zuschauen, wie er das macht: eine Figur spielen, als habe er sie gerade erst kennengelernt und sich im Vorbeischlendern zu eigen gemacht.
Aber der Kunstschleier schützt Otto Sander auch vor dem Missverständnis, er sei ein Volksschauspieler für all jene, die meinen ein Volksschauspieler stünde dem Volk näher als der Kunst, so wie es dem unglücklichen Harald Juhnke geschehen ist. Bei dem wollte am Ende kaum noch einer sehen, dass sein "Trinker" in Tom Toelles Fallada-Verfilmung große Schauspielerei war und nicht etwa großes audiotherapeutisches Mitleidstheater.
Otto Sander hat die großen Rollen des deutschen Theaters gespielt, das kann man alles nachlesen. Den Kottwitz in Kleists "Prinz von Homburg", den Suslow in Maxim Gorkis "Sommergäste", den Werschinin in Peter Steins Inszenierung von Tschechows "Drei Schwestern". Und er war der Schuster Wilhelm Voigt in Matthias Hartmanns Bochumer Aufführung von Zuckmayers "Hauptmann von Köpenick" 2004 - da hat Sander mit dieser bummeligen Lässigkeit alles Verlierer- und Trotzpathos aus dieser Figur herausgespielt, die viele für die Rolle seines Lebens hielten.
Aber was heißt das schon für einen, der beim Spielen und Leben den Ball so ausdauernd flach hält wie Otto Sander? Die Deutschen haben in ihm vielleicht wirklich nach Heinz Rühmann noch einmal einen Schauspieler gefunden, der etwas in ihnen antippt, das sie gerne Seele und Gemüt nennen. Aber Otto Sander hält über das Gemüt sorgsam seinen feinen Kunstschleier gelegt - mit Otto Sander können wir sehen, wie einer uns das Leben, das Unglück und die Komik zeigt, ohne dass wir selber dadurch unglücklicher, komischer oder lebendiger werden.
Großer Menschheitsernst
Wir sehen nur zu und sind ganz ruhig dabei. Deshalb war vielleicht der Engel Cassiel, den Sander 1987 in Wim Wenders' Himmel über Berlin spielte, seine programmatische Rolle - der Engel weiß um das Elend der Welt, aber raushelfen kann er uns nicht.
Mit den Jahren ist Otto Sander so etwas wie das Wappentier des deutschen Films geworden. Das hat natürlich viel mit seinem äußeren Daherkommen zu tun, mit dem freundlich-resignativen Sander-Gesicht, der tiefen und doch auch etwas metallenen Stimme, von der man sich vorstellte, sie könnte einem die alten Kindermärchen noch einmal so vorlesen, dass sie keine Lügen mehr enthalten.
Er hat ja auch den Tragöden Joachim Ringelnatz so vorgetragen, dass selbst der letzte ostentative Augenzwinkerer kapiert hat, dass es hier nicht um Matrosensuff geht, sondern um den großen Menschheitsernst.
Als Sander vor vier Jahren an Speiseröhrenkrebs erkrankte, wollten ihn viele wieder anfassen und wissen, ob und überhaupt. Er gab ein paar Auskünfte, sagte Proben ab, und etwas später erklärte er, bei Zigarette und Bier, er sei geheilt. Jetzt dreht er wieder, demnächst spielt er einen Senioren in einer deutschen Filmkomödie. An diesem Donnerstag wird Otto Sander siebzig Jahre alt. Seinen Kunstschleier wird er hoffentlich nie lüften.