Es muss nicht einmal feuchtkalter Winter sein, um in Salzburg von jenen Eindrückenniedergedrückt zu werden, wie sie schon Wolfgang Amadé Mozart oder Thomas Bernhard heimgesucht haben. Deshalb müssen die prinzipiell ganzjährigen Mozart-Festspiele, die im Januar "Mozartwoche" heißen, einiges aufbieten, um das Bild der unheimeligen Stadt aufzuhübschen, dass sich der Fremdenverkehr auch jenseits des Tagestourismus aufrechterhalten lässt. Klingende Namen wie etwa Rolando Villazón als Intendant sind hilfreich, Neuentdeckungen im unerschöpflichen Werkfundus von Mozart wie in diesem Jahr die Schauspielmusik zu "Thamos" machen ebenfalls neugierig.
Zudem konnte man mit einer Frau am Dirigierpult aufwarten. Das ist zwar nicht mehr so spektakulär wie noch vor zehn Jahren - es gibt inzwischen einige Dirigentinnen -, aber eine Besonderheit noch immer. Die in New York geborene mexikanische Dirigentin Alondra de la Parra leitet seit 2017 das Queensland Symphony Orchestra, von dem man sonst wohl auch nichts gehört hätte. Sie hat aber auch schon die Bamberger Symphoniker dirigiert und soll nun der Star einer großen deutschsprachigen Plattenfirma werden; die Verträge sind unter Dach und Fach.
In der Salzburger Felsenreitschule kam man also nicht ganz um die Frage herum: Dirigieren Frauen anders als Männer? Die Antwort: natürlich. Es geht ja auch ums Körpergefühl und Körperselbstbewusstsein. Dabei zeigt sich eine offenbar gender-abhängige Bewegungslust. Der Wunsch, musikalischen Impuls und rhythmischen Akzent körperlich zu vermitteln, scheint bei Frauen viel stärker ausgeprägt zu sein und eindeutiger lokalisierbar: federnde Knie und Hüftkreisen finden sich bei Männern seltener. Rudernde Arme, Handfächer und expressionistrisches Soufflieren für den Chor sind dagegen genderübergreifend. Darüber hinaus gibt es genderunabhängige Differenzen, wie sie auch sonst zwischen Dirigenten herrschen. Und die waren im Falle von Alondra de la Parra wesentlicher als die übrigen. Hauptunterschied ist und bleibt: Dirigiere ich vorneweg, hinterher oder zeitgleich in einem musikalischen Paralleluniversum?
Im dritten Akt fliegen Akrobaten über dem Orchestergraben und winden sich in Höllensturz-Figuren
Traditionellerweise preschen amerikanische Dirigenten voran, folgen europäische lieber dem Orchester, und nur wenige, ganz große agieren in einer eigenen Zeitkapsel und schaffen es, die Orchestermusiker in ihren Kosmos herüberzuziehen. Erstaunlich selten mischen sich diese drei Grundtypen. Andrea de la Parra schafft es, zumindest zwischen den ersten beiden Charaktere zu wechseln; mal ist sie vorn, dann wieder gerät sie ins Grübeln und muss aufholen. Das Orchester der Camerata Salzburg sowie der örtliche Bachchor folgen willig, bleiben aber öfter mal hinter den gestisch formulierten Ansprüchen der Dirigentin zurück. Wenn de la Parra in exaltierter Motorik nach ebenso exaltiertem Ausdruck verlangt, sieht sie oft in fragende Musikergesichter.
Das kann auch damit zu tun haben, dass die Dirigentin auf ein spannungsgeladenes, am Ende gar explodierendes Bühnenbild schaut, während die Musiker davon nur wenig mitbekommen. Einmal verirrt sich eine Darstellerin gezielt in den Zuschauerraum, im dritten Akt fliegen Akrobaten über dem Orchestergraben und winden sich in Höllensturz-Figuren wie bei Goltzius.
Der Regisseur Carlus Padrissa von La Fura dels Baus hat alle Theaterforderungen erfüllt, die diese eigentümliche Wiedererweckung der Mozartschen Thamos-Fragmente an ihn stellen musste. Das Theaterstück "Thamos, König in Ägypten" stammt von Tobias Philipp von Gebler, den Mozart möglicherweise über eine Freimaurerloge kannte. Die inhaltlichen Verbindungen des "heroischen Dramas" zu der 16 Jahre späteren Zauberflöte sind unverkennbar, aber Mozart hat für Geblers Schauspiel nur zwei Chornummern geschrieben, für die Salzburger Aufführungen der Wandertruppe von Johann Böhm noch Zwischenaktmusiken und einen weiteren Chor.
Wie soll man aus dem Freimaurerdrama eine Oper zaubern, zumal mit so wenigen Musiknummern?
Böhm hat Mozarts Musiknummern später für ein anderes Theaterstück verwendet und für Mozarts frühe Es-Dur-Sinfonie als Ouvertüre, und hatte damit weit größeren Erfolg als mit "Thamos", diesem aufklärerischen Klischeestück vom Kampf der Vernunft gegen das Vorurteil, von der Erkenntnis gegen die strukturelle Gewalt. Im Kern also schon mehr Freimaurerdrama mit sozialem Empörungspotenzial als abgeklärtes barockes Figurengeschiebe. Aber wie soll man daraus eine Mozart-Oper zaubern, zumal mit so wenigen Musiknummern? Kann man einfach Bewährtes aus der Zauberflöte abzwacken, wo es doch ohnehin inhaltliche und musikalische Querverbindungen gibt?
Natürlich kann man das, obwohl dies eine Gefahr birgt, die man in Salzburg vielleicht weniger streng beurteilt: dass nämlich durch die Einfügung von Arien und Chören aus der "Zauberflöte" die übrige Musik herabgesetzt wird. Weil hier in einer klugen Dramaturgie aber auch die disparatesten Musiknummern - etwa die elektronischen Zwischenmusiken - in eine Art Stimmungskontinuum gebunden werden, funktioniert das Patchwork doch als ein Ganzes. Um einen traditionellen Erzählfluss geht es dabei nicht - die melodramatischen Abschnitte, die Mozart überhaupt nur in "Thamos" und "Zaide" verwendete, sind ganz gestrichen - eher um einen revuehaften Bilderbogen aus mythischen Figuren, symbolischen Handlungen und kraftvollen Theaterbildern, die sich in und vor den steinernen Logen der Felsenreitschule prächtig entfalten.
So staunte man am Ende über eine unerwartet gelungene Wiederbelebung der "Thamos"-Theatermusik, mit Einsprengseln aus "Zaide", "Zauberflöte" und Live-Elektronik, angeführt von einer charismatischen Dirigentin und ausgezeichneten Solisten. Erwartbar war das nicht unbedingt; es hätte auch gründlich schiefgehen können.