Oper:Das Rascheln im Auge des Betrachters

Lesezeit: 3 min

Wiener Festwochen: Achim Freyer paraphrasiert Salvatore Sciarrinos Oper "Luci mie traditrici".

Von Helmut Mauró

Der 81-jährige Maler und Regisseur Achim Freyer inszeniert immer weit weniger konkret aktionistisch als viele seiner Kollegen. Er denkt und handelt in Bildern, er malt Ideen auf, er lässt Theatercharaktere, die immer als solche erkennbar bleiben, durch seine Bildlandschaften wandeln. Für die Wiener Festspielproduktion von Salvatore Sciarrinos 1998 erstmals aufgeführter "Luci mie traditrici", der erfolgreichsten und dementsprechend oft nachgespielten Oper der vergangenen Jahrzehnte, hat Freyer sich noch mehr Mühe gemacht und ein wortloses Vorspiel entworfen: Man schaut ins Dunkel, eine Mondsichel taucht auf, und aus dem Off kommen gedämpfte nächtliche Urwaldgeräusche: Hierzulande raschelt und zirpt und pfeift nachts nicht so viel Getier.

Dann folgt ein Lichtwechsel von Mondsichel oben auf rautenförmigen Tisch unten und darauf, getrennt durch ein paar Sekunden Umbau-Dunkelheit, scheinbar willkürlich entworfene Standbilder, die zusammengesetzt sind aus Hut, Tasche, Tablett, Buch, Aktentasche, Schaukelpferd. Dazu treten Commedia dell'Arte-Figuren, clownesk stilisiert mit Bleistifthut oder knallrot kostümiert. In jeder dieser Sekundenszenen wechseln Personen, Gegenstände und Anordnung. Diese stumme Collage entwickelt einen in sich kreisenden Bilder-Ideen-Pool, aber keine Handlung, keine Geschichte, und lassen bei aller Konkretheit der Gegenstände keinerlei konkrete Gedanken erkennen. Es ist ein Vexierspiel aus Gegenständlichem und Unkonkretem, das Augen, Ohren und noch mehr den Theaterverstand öffnet für die nun übergangslos folgende Oper. Die präsentiert Freyer als ein immer konkreter sich verdichtendes Denkerlebnis in einem immer abstrakteren Theaterraum, in dem die Konturen der Sänger-Darsteller im halbdunklen Bühnenraum verschwimmen oder gar auf den Kopf gestellt sind.

Aber was in Freyers Vorspiel "Tag aus Nacht ein" noch mit dem Etikett der Groteske - er nennt sein Dramolett selbst so - abzutun ist, das kommt einem bei Salvatore Sciarrino kaum in den Sinn. Allein wegen der Dauer von nur neunzig Minuten. Es ist eher so, dass sich der Zuschauer selbst in einer groß angelegten Versuchsanordnung wiederfindet, in der surreales Theater einmal ganz ernst genommen wird. Rein äußerlich geht es um die historisch belegte Figur des Renaissancefürsten und Komponisten Don Carlo Gesualdo, der aus Eifersucht Frau und Liebhaber ermordete und einen Schatz harmonisch eindrucksvoller Gesangsstücke hinterließ.

Diese Renaissance-Klänge fesselten auch Sciarrino, Jahrgang 1947 und der eigenwilligste und erfolgreichste Avantgarde-Komponist Italiens. Allerdings verwendet Sciarrino als Kopfmotiv der Oper eine Melodie des französischen Renaissance-Meisters Claude Le Jeune, der damit ein Gedichte von Pierre de Ronsard vertonte: "Was ist aus diesem schönen Auge geworden, das meine Seele einst mit seinen Strahlen erleuchtete?" Die aufblitzende Erinnerung an die Schönheit, die Beschwörung der Vergänglichkeit - Salvatore Sciarrino war offenbar fasziniert von diesem kunstvoll zelebrierten und große Kunst auslösenden Renaissance-Gefühl. Immer wieder unterbricht er seine Geräuschklangerzählung mit artifiziell verfremdeten Renaissance-Klängen, arbeitet zudem das Thema von Le Jeune in die Gesangsstimmen der hervorragenden Solisten Anna Radziejewska, Otto Katzameier, Kai Wessel und Simon Jaunin. Sciarrino löst die alten Klänge im begleitenden Instrumentalklang des Klangforum Wien auf, zerstäubt sie in feinsten Nebel. Dieser Komponist ist einer der wenigen Klangmystiker der Moderne, weil er Musik nicht in die intellektuelle Knechtschaft des Konstruktivismus führt, sondern sie aus allen Bindungen befreit.

Oft bleibt deshalb nur zartes Geräusch, und immer wieder hat man den Eindruck, der Komponist greife einem tief ins Unbewusste. Mit Musik im herkömmlichen Sinn hat das nichts mehr zu tun, Sciarrinos Klangkunst ist davon so weit entfernt wie die Erde von der Milchstraße, und doch berührt sie das innerste Wesen von Musik. Sciarrino schafft einen akustischen Reiz, der unmittelbar ins Fühlen und Denken vordringt. Deshalb klammert sich der Zuschauer kaum an die starke Sehnsuchtslyrik des Librettos, das der Komponist aus dem "Tradimento per l'onore" des Barock-Dramatikers Giacinto Andrea Cicognini geformt hat, sondern überlässt sich in einer Art innerem Schwebezustand den kongenial verwobenen Sinneseindrücken aus Wort, Gesang, Klanginstallation und Bildbehauptung.

Achim Freyers mehrgeschossig gestaffeltes, das Instrumentalensemble integrierendes Bühnenbild hat zugleich etwas Kosmisches, Entgrenztes, Dunkles wie auch etwas entwaffnend Menschliches. Man traut sich gleich wieder, wie ein Kind in die Welt zu schauen und alles für sehr neu und sehr bedeutend zu halten. Und selbst die absurdeste Hoffnung im breiten Strom der Verzweiflung, wie er hier lustvoll ausgebreitet wird, scheint ganz plausibel zu sein.

© SZ vom 21.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: