Oper:Ein Hauch von David Lynch

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Amerikanisches Unterschichten-Milieu wie bei David Lynch oder in "Breaking Bad": Puccinis "La Fanciulla del West" in der Inszenierung von Lydia Steier. (Foto: Martin Sigmund/Staatsoper unter den Linden)

Gier und Mordlust im Goldgräberlager: Puccinis "La Fanciulla del West" an der Berliner Staatsoper mit orchestraler Pracht und einer großartigen Anja Kampe.

Von Julia Spinola

Mit einer gnadenlos hochgischtenden Gewaltgeste wirft uns Giacomo Puccini ins blutige Wildwest-Ambiente seiner Oper "La Fanciulla del West". Das kantig-pentatonische Thema der Ouvertüre blickt schon auf die eisige Klangwelt der Prinzessin Turandot in Puccinis letzter Oper voraus. Und die Szenerie auf der Bühne der Berliner Staatsoper setzt die Brutalität dieser Klänge in einem optischen Fortissimo fort. Grell prallen die Gegensätze aufeinander. Hinter einem schrottreifen Pick-up baumelt ein Gehängter am Strick, während das riesige Leuchtreklamebild einer Nackttänzerin das erotische Paradies verspricht. Ein ausgestopfter Bison verbreitet Wildwest-Romantik, während die Masse der Jeans und Karohemd tragenden, zockenden und saufenden Männer sich wie eine Meute wilder Hunde auf dem Sprung zum Angriff befindet.

Die erste Premiere der Staatsoper nach dem Lockdown war zeitgleich auch in einem Autokino zu sehen

Die amerikanische Regisseurin Lydia Steier hat sich für das brutale amerikanische Unterschichtenmilieu, in dem sie Puccinis Goldgräber-Oper spielen lässt, von Serien wie "Breaking Bad" und von David Lynchs Film "Lost Highway" inspirieren lassen. Ihr Kostüm- und Bühnenbildner David Zinn setzt diese Multi-Kulti-Personage aus "White Trash" und farbigen Underdogs, schwangeren Junkies und einer Transgender-Kellnerin bildmächtig um. Zur poppigen Junk-Ästhetik passt es nicht schlecht, dass die Staatsoper die lang ersehnte, erste Premiere seit dem Lockdown zeitgleich auch in einem Pop-up-Autokino auf dem ehemaligen Flughafengelände des Tempelhofer Feldes überträgt.

Im kalifornischen Goldgräberlager würde nichts als Gier und Mordlust regieren, gäbe es nicht die titelgebende "Fanciulla". Diese ganz unheilige Mutter Teresa alias Minnie sorgt mit einem kleinen Imbiss-Wagen für das leibliche Wohl der Desperados, erobert sich Whiskeys kippend und Colt schwingend das Vertrauen der Männer und vermittelt ihnen in all der Trostlosigkeit zugleich doch in anrührenden Bibelstunden noch eine Ahnung von Anstand und Hoffnung. Diese Minnie, die todesmutig ihre ganze Sehnsucht nach Liebe und Menschlichkeit in die Waagschale wirft, um eine verkommene Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen, ist eine der stärksten weiblichen Figuren der italienischen Opernliteratur. Und die große Wagner-Sopranistin Anja Kampe ist ihre derzeit wohl konkurrenzlose musikdramatische Darstellerin.

Gerade weil Puccini in seiner 1910 an der New Yorker Met uraufgeführten Oper die großen Arien und den ausladenden Belcanto-Schmelz verweigert, ist die Partie mit ihren vielen kleinteiligen Ariosi, den dramatischen Exklamationen und dem filigranen Ensemblegesang so heikel und zugleich so reizvoll. Anja Kampe wirft sich mit leidenschaftlicher Unbedingtheit und einem sopranistischen Leuchten sondergleichen in die fluktuierenden Stimmungswechsel dieser Frau, die sich so heftig in einen eleganten Fremden namens Dick Johnson verliebt, dass sie in einem Kartenspiel um sein Leben sogar ihren Körper als Einsatz bietet. Sie beglaubigt die Menschlichkeit, die Puccini dieser Rolle zugedacht hat, im Wechsel von mädchenhafter Unschuld und Abgebrühtheit, von Ängstlichkeit, Träumerei und einer Jeanne D'Arc-artigen Kühnheit. Mit dieser lässt sie ihren Sopran schließlich wie ein Laserschwert in die Ensembles der rachedurstigen Männerwelt hineinfahren, um den geliebten Fremden, der in Wahrheit der Bandit Ramerrez ist, vor dem Galgen zu retten.

Marcelo Álvarez macht diesen Einsatz der Minnie maximal plausibel, denn er lockt und umschmeichelt sie als Dick Johnson mit einer stimmlichen Verführungskraft, die ganz ohne die genretypischen Schluchzer und Tränendrüsendrücker auskommt. So warm, schlank, fokussiert und klangbewusst führt er seinen geschmeidigen Tenor, dass gelingt, was nur Oper kann: das unglaublichste, unwahrscheinlichste Happy End als gelingende Utopie vor Ohren und Augen zu stellen. Gegenspieler ist der Sheriff Trance, der ein Auge auf Minnie geworfen hat, und den der famose Michael Volle mit wohlklingender Baritonschwärze als Jack Nicholson-artigen Zyniker am Rande des Wahnsinns verkörpert. Was für eine Sängerbesetzung! Auch die ausnahmslos gelungen besetzten zahlreichen Nebenrollen und der prächtig singende Männerchor der Berliner Staatsoper tragen zu ihr bei.

Die eigentliche Hauptrolle spielt in dieser Puccini-Oper das Orchester

Und welche orchestrale Pracht! Denn die eigentliche Hauptrolle in Puccinis zu Unrecht vernachlässigtem Wurf spielt das ausladende Orchester. Der Staatskapelle Berlin gelingt es, in einer leicht reduzierten Besetzung, die überbordenden Einfälle Puccinis in dieser meisterhaft instrumentierten Partitur packend suggestiv zur Geltung zu bringen. Neben den Varianten klirrender Gewaltgesten sind es auch die an Debussy erinnernden Farbmischungen und traumgleichen Dämmerzustände, die unter der Leitung von Antonio Pappano einen unwiderstehlichen Zauber entfalten. "Eine Partitur von durchaus originellem Klang", bemerkte ein so unsentimentaler Komponist wie der Schönberg-Schüler Anton Webern zu dieser Oper: "Prachtvoll. Jeder Takt überraschend. Ganz besondere Klänge. Keine Spur von Kitsch!"

Lydia Steier verlegt den gesamten zweiten Akt, der in Minnies Stube spielt, in ein klaustrophobisch enges Puppenhäuschen, das von Videobildern eines Schneesturms umtost wird: ein Filmzitat des Intros von David Lynchs "Lost Highway". Irgendwann taucht in diesem Schneenebel ein ängstlich blickender einsamer Wolf auf. Dass man der Aufführung sogar diese plakativen Bilder abnimmt, ja von ihnen gefangen wird, das schafft wirklich nur große Oper. Ovationen.

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