Neuer Roman von John Irving:John Irving verabreicht dem magischen Realismus einen Betablocker

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Auf einer Müllkippe in Mexiko beginnt John Irvings "Die Straße der Wunder". (Foto: Yuri Cortez/AFP)

"Die Straße der Wunder" taucht tief ein in die Welt des mexikanischen Glaubens - doch John Irvings neuer Roman ist eher wunderlich als wunderbar.

Buchkritik von Burkhard Müller

Zwar haben die wenigsten von uns schon mal einen Geist gesehen, und doch besitzen wir eine klare Vorstellungen, wie er auszusehen hätte: bleich, unheimlich, mehr Nebelhauch als Persönlichkeit. Die beiden Haupt-Geister im neuen Buch von John Irving allerdings sind so handfeste Charaktere, dass man gar nicht auf die Idee käme, es könnte mit ihnen etwas nicht in Ordnung sein.

Dorothy, die Tochter, und Miriam, die Mutter, zwei äußerst attraktive und unternehmungslustige Damen, nehmen sich des leicht gehemmten Juan Diego an, als er sich voller Ängste auf eine Reise nach Ostasien begibt. Sie kapern kurzerhand seine Flugtickets und Hotelreservierungen und zeigen ihm, was Sache ist, auch und gerade beim Sex - wobei sie sorgsam darauf achten, dass er nicht nur sein Viagra, sondern auch seine Betablocker genommen hat. Wer würde ein Wesen, das beim Orgasmus so laut schreit wie Dorothy, als Geist verdächtigen, selbst wenn sie hinterher im Badezimmerspiegel fatalerweise kein Bild erkennen lässt?

Die Heilige Jungfrau verspritzt haselnussgroße Tränen

Juan Diego hat sein Leben als absoluter Underdog begonnen und doch seinen Weg gemacht, wenn auch hinkend. Seine Kindheit verbringt er, ein zapotekischer Mischling, gemeinsam mit der wilden, in unverständlichen Zungen redenden, geliebten Schwester Lupe, auf der Müllkippe des südmexikanischen Oaxaca, umsorgt freilich von den Jesuiten-Patres des "Hogar de los Ninos Perdidos", des "Hauses der verlorenen Kleinen". Der Deponiechef Riveras (möglicherweise sein Vater) fährt ihm versehentlich mit seinem Pickup-Truck über den Fuß, so dass er sein Lebtag verkrüppelt bleibt. Dennoch rückt eine Karriere als Hochseilartist im Zirkus "La Maravilla", der Wunderbaren, vorübergehend in seine Reichweite.

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Durch eine Verkettung glücklicher Umstände - der Jesuitenkandidat Edward verliebt sich in die stämmige Transvestitin Flor, die beiden tun sich zusammen, um Juan Diego zu adoptieren - landet er schließlich am College von Iowa City im Herzen der USA. Dort entwickelt er sich, der sich schon auf der Kippe als zäher Autodidakt mit Büchern gebildet hatte, zum international angesehenen Schriftsteller. Jetzt folgt Juan Diego einem Gelübde, das er seinem sterbenden Freund, einem amerikanischen Hippie mit riesigem Jesus-Tattoo, gegeben hatte, und will das Grab von dessen 1945 auf den Philippinen gefallenen Vater besuchen. Und wenn ihm, dem weltfremden Einzelgänger, nicht sein alter Creativ-Writing-Schüler Clark sowie die beiden Geisterladys gewaltig unter die Arme griffen, wäre wohl nichts geworden aus dieser Mission.

"Straße der Wunder" heißt der neue Roman von John Irving, im englischen Original "Avenue of Mysteries". Und von Mysterien und Wundern macht er reichlich Gebrauch, ganz im Stil des magischen Realismus, der manchen Autoren unentbehrlich scheint, sobald ihr Buch in den wärmeren Klimaten der Dritten Welt spielt. Insbesondere die Heilige Jungfrau zeigt sich eingreiffreudig und funkelt Juan Diegos Mutter, als diese deren riesige Statue in der Kirche abstauben will, wegen des allzu freizügigen Dekolletés so böse an, dass die arme Esperanza von der Leiter fällt und stirbt.

Dann jedoch weint das "Monster Maria", wie sie bis zum Überdruss genannt wird, im Beisein von neun Zeugen wider haselnussgroße Tränen über Juan Diegos trauriges Schicksal, dass es nur so spritzt. Das alles klingt erst mal recht lustig; aber wie immer wird auch hier der Realismus von der Magie beschädigt, indem sie die Glaubwürdigkeit des Konstrukts insgesamt erschüttert und bewirkt, dass man sich auch echt schlimme Dinge (wenn etwa die Löwen im Zirkus die Schwester töten) nicht mehr so recht zu Herzen nimmt.

Irving aber braucht die Wunder: Sie sind das Einfallstor seiner ironischen Sentimentalität, und zugleich bahnen sie den sozialen Konstellationen den Weg, die man als hochunwahrscheinlich selbst dann bezeichnen muss, wenn man die Geisterbegegnungen abzieht. Das Grundmuster ist dem Leser vertraut seit "Garp und wie er die Welt sah", dem Roman, der 1978 Irvings Ruhm begründete: Die schrillen Außenseiter tun sich zusammen - Transvestiten, Krüppel, Flagellanten, Zwerge, Eingeborene - und begründen durch ihre Solidarität eine besondere Art von Patchwork-Familie.

Es sind kaleidoskopische Variationen auf das Motiv der Bremer Stadtmusikanten. Hier liegt der Kern von Irvings Erzählens: Es lässt als wahres Ereignis nur den Augenblick zu, in dem die Figuren einander finden und erkennen, von da an kann nichts mehr von Bedeutung geschehen. So viele groteske Wendungen Irving auch ins Spiel bringen mag, eine eigentliche Handlung entspringt nicht mehr daraus. Stattdessen ähnelt das Buch einem riesigen Tableau, auf dem der Scheinwerfer mal dieses und mal jenes Teil beleuchtet.

Todesfälle sollen das Rührselige brechen und steigern es noch

Das hat missliche Folgen für die Architektur des Ganzen. Der Leser erlebt Juan Diego, wie er in Flugzeugen und Hotel-Lobbys plötzlich einschläft und von seinem bisherigen Dasein in Flashbacks träumt - so lang, bis irgendwer, den dieser im Schlaf Brabbelnde beunruhigt, ihn wachrüttelt. Auf diesem Weg kommt es zu zahlreichen Überschneidungen, selbst die Dialoge wiederholen sich; immer wieder wird die Story aufgewärmt, wie die große Jungfrau Maria ihre Nase verlor, immer wieder kriegt die katholische Kirche mit ihrer Sexualheuchelei ihr Fett weg, bis es dem Leser zu den Ohren herauskommt.

Oh, hat Juan Diego schon wieder nur die halbe Ration seiner Betablocker genommen! Na, wenn das mal keine intensiven Träume gibt . . . Und wie war das noch mal mit der Nase? Dass die Figuren (Akteure mag man sie gar nicht nennen) in diesem mit fast 800 Seiten nicht gerade schlanken Roman keinerlei Gelegenheit erhalten, sich zu entwickeln oder ambivalent zu schillern, sondern immer bloß dasselbe schräge Bild von sich selbst abgeben und bekräftigen müssen, liegt an der ungut malerischen Anlage des Werks.

Irving hat diese Gefahr wohl teilweise erkannt und sucht der Rührseligkeit durch eine Häufung von Todesfällen entgegenzuwirken, von Löwenattacken (zwei) bis Aids (mehrere), aber das erzeugt nun wieder Rührstücke anderer Art. John Irving ist ein ungleichmäßiger Autor, einer, bei dem die Stücke nicht zusammenpassen. Manches könnte vielleicht als Märchen funktionieren, aber indem er das Profi-Handwerk des altgedienten Romanciers mit einer kindischen Emotionalität vermengt, wird sein Buch zum Ärgernis.

John Irving: Straße der Wunder. Roman. Aus dem Englischen von Hans M. Herzog. Diogenes Verlag, Zürich 2016, 784 S., 26 Euro. E-Book 22,99 Euro.

© SZ vom 05.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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