Neue Filme im Kino:Von der Welt deformiert

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"Meine keine Familie" im Kino. (Foto: mindjazz pictures)

Was, wenn Vierzehnjährige sich in die Sexualität "einführen" lassen müssen, Kinder zu Marionetten werden? Die Dokumentation "Meine keine Familie" deckt die Traumatisierung von Kindern einer Wiener Kommune auf. Wie eine Antwort darauf wirkt der nicht weniger beeindruckende Film "Draußen ist Sommer", in dem eine Kleinfamilie in der Schweiz auseinanderdriftet.

Von Philipp Stadelmaier

"Los jetzt, singen!", bellt der Mann mit dem Stoppelbart und der Brille den vielleicht achtjährigen Jungen vorne am Mikrofon an. Mundharmonika soll er spielen, aber er mag nicht. Der andere wird sauer. Er schubst ihn herum, gießt Wasser über seinen Kopf, zieht ihm mit den Fingern die Mundwinkel nach oben. "Lachen! Hehe! Lach schon!" Der Junge gibt gequält einen oder zwei Töne von sich, während eine Band fröhliche Musik spielt - und bricht wieder ab. Ihm strömen die Tränen. Die Einzigen, die lachen, sind die anderen im Saal. Jetzt ab ins Bett, schreit der Stoppelbart: Morgen machen wir das wieder.

Diese demütigende Szene hat Paul-Julien Robert neben vielen anderen in den Archiven der Friedrichshof-Kommune gefunden, die von 1972 bis 1990 in der Nähe von Wien existierte - Aufnahmen, die hier zum ersten Mal zu sehen sind. Der Mann, der die Kommandos gibt, ist ihr Gründer und Guru, der Maler Otto Muehl. Das Kind am Mikrofon wurde, genau wie der Regisseur Robert, in diese Gemeinschaft hineingeboren.

Nach und nach und ohne Abrechnungspathos deckt Robert die Traumatisierung der Friedrichshof-Kinder auf - durch Muehl, aber auch durch jene, die ihn tun ließen, was er tat. Wie etwa Roberts Mutter, die er im Film interviewt, ohne sie zu verhören. Zunächst ist "Meine keine Familie" ein liebevolles Porträt der Kommune. Ohne Bezugspersonen sollten die Kinder aufwachsen, im Kollektiv, nach antiautoritären Prinzipien. Freie Liebe sollte das Modell der klassischen Kleinfamilie ablösen. Im Gegensatz zum durch das elterliche Züchtigungsrecht legalisierten Kindesmissbrauch war ein Grundsatz der Kommune Gewaltfreiheit, in "Aktionstherapien" sollten die zugefügten Wunden in ekstatischen Performances und Gruppensex geheilt werden.

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Was aber, wenn Vierzehnjährige sich in die Sexualität "einführen" lassen müssen, Kinder zu Marionetten werden, auf Kommando lustig sein müssen? Er habe das Leben zum Kunstwerk machen wollen, sagt Muehl in einem alten Interview-Ausschnitt. Vielleicht hat er deswegen alles filmen lassen. Doch die Aufnahmen zeigen die Ruinen dieses Gesamtkunstwerks. Die geforderten Ekstasen werden immer mechanischer. Die zu überwindende Gewalt wird nur verschoben. Muehls von Rousseau geborgte Idee, Kinder kämen rein zur Welt und würden dann deformiert, impliziert eine angestrebte Reinheit, die erst noch zurechtinszeniert werden muss. So gibt es nicht nur bei Robert dann doch wieder eine gewisse Sehnsucht nach der Kleinfamilie (egal, ob im Hetero-, Homo- oder Patchworkmodus), die zwanzig Jahre nach Auflösung und Scheitern des Friedrichhofs längst triumphiert zu haben scheint.

Wie eine Antwort darauf, zufällig mit dem gleichen Starttermin, wirkt der nicht weniger beeindruckende Film von Friederike Jehn. "Draußen ist Sommer" erzählt von der 14 Jahre alten Wanda (Maria-Victoria Dragus), die mit ihren Eltern, der jüngeren Schwester und dem kleinen Bruder in ein großes Haus in der Schweiz gezogen ist. Die Eltern spielen mit den Kindern Fangen, und man gewinnt den Eindruck einer harmonischen Familie, selbst wenn Wanda Probleme in der Klasse und mit Jungs hat und die Eltern sich zoffen.

Vielleicht hat der Vater eine Affäre. Vielleicht wird die Mutter wegen gescheiterter Bewerbungsgespräche depressiv. Der Kleine verstummt. Und so driftet die Familie leise auseinander, und mit ihr die Welt. Alles bleibt in der Schwebe, zwischen dem blauen Himmel, in den Wanda mit ihrer Familie eine Ballonfahrt unternehmen will, und dem blauen Pool, dessen Bademeister sich in sie verliebt: Dem anfangs netten Kerl muss irgendwann das viele Chlor zu Kopf gestiegen sein.

Die "perfekte Familie" ist nur eine Schimäre

Coming of Age und Familienleben, das ist hier die einzige, aber vielleicht gerade deshalb auch so unsichere Art, auf der Welt zu sein. Wenn etwa Wandas Schwester, die von allen nur "Miss Sophie" genannt wird und schon als Neunjährige wie eine exzentrische alte Jungfer aussieht, im Abendlicht des Waldes die Frage nach der Existenz Gottes stellt, wirkt das, als würde sich der Moment mit Ewigkeit vollsaugen - gerade, weil er schon einer unvordenklichen Vergangenheit angehört.

Die "perfekte Familie" ist nur eine Schimäre im Nachbarhaus, wo Wanda sie mit dem Fernglas beobachtet. Ihrer eigenen gibt sie am Ende in einer grandiosen Szene die Dialoge vor: Wie geht's, Schatz, wie war dein Tag, wie war die Firma? "Und jetzt müsst ihr sagen, dass ihr euch liebt." Erst spielen alle mit - dann nicht mehr. Der Abstand zu Muehl könnte größer kaum sein. Und doch wird auch Wanda zur Regisseurin. Nur wirkt ihre Gewalt nicht. Wenn auch die Kleinfamilie der einzige Horizont geworden ist, ist sie nicht weniger eine Ruine als die Kommune. Bei aller "Natürlichkeit" braucht jede Familie einen Regisseur. Das Stück, das inszeniert werden muss, ist uralt und unrealisierbar.

Meine keine Familie , Ö 2012 - Regie und Buch: Paul-Julien Robert. Kamera: Klemens Hufnagl, Fritz Ofner. Mindjazz Pictures, 93 Min.

Draußen ist Sommer , D 2012 - Regie: Friederike Jehn, Buch: Jehn, Lara Schützsack. Kamera: Sten Mende. Mit Maria-Victoria Dragus, Nicolette Krebitz. Alpha Medienkontor, 96 Min.

© SZ vom 26.10.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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