Netzkolumne:Nichtstun: auch dafür gibt es eine App

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Vor dem Flug in den Urlaub noch schnell die Mails checken: Die Grenzen zwischen Job und Privatleben sind so durchlässig wie nie. (Foto: Mint Images/imago images)

Kalter Entzug für Workaholics: Der "Productivity Blocker" stellt Outlook, Teams und andere stumm.

Von Michael Moorstedt

Dieser Text ist in einem italienischen Bauernhaus geschrieben worden. Während abends die Grillen zirpen und das Kind sonnenmüde schläft, betrachtet man nicht das Funkeln der Sterne, stattdessen wird das Gesicht einmal mehr vom fahlen Licht des Laptopbildschirms beleuchtet. Ein Text als Symptom.

Nach mehr als zwei Jahren pandemischen Lebens mit all seinen Auswirkungen auf die Arbeitswelt sind die Grenzen zwischen Job und Privatleben so durchlässig wie nie. Irgendwie ist irgendwo immer Arbeit, die entsprechenden Apps zur Erreichbarkeit sind auf den mobilen Endgeräten installiert und Abwesenheitsnotizen werden von Chefs und Kollegen großzügig ignoriert. Privatgespräche arten in Brainstorming-Sessions aus und New Work ist nur ein schickes Schlagwort, damit sich die Arbeitnehmer während der permanenten Selbstausbeutung wenigstens modern und zukunftsfähig fühlen. Denn über all dem schwebt permanent die Drohung, ohnehin bald von intelligenten Maschinen ersetzt zu werden. Es ist also kein Wunder, dass die Menschen beinahe schon neurotisch an sich arbeiten, um noch mehr zu leisten.

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Software, die Ablenkung blockt, gibt es zuhauf. Weil man sich heutzutage selbst nicht über den Weg traut, installiert man Produktivitäts-Apps, die den Zugang zum Internet oder zu bestimmten Webseiten blockieren. Manche Programme reizen den Gedanken dabei vollständig aus - und liefern Mechanismen, die dafür sorgen, dass die Nutzer mit wenig Selbstbeherrschung nicht einfach die App schließen. Wenn etwa in der passend genannten "Most dangerous Writing App" nicht permanenter Input gegeben wird, beginnt das bereits Geschriebene nach wenigen Sekunden wieder zu verschwinden. Ohne Chance, den Arbeitsfortschritt zu speichern. Der postmoderne Kreativarbeiter geißelt sich also selbst für seine Ideenlosigkeit.

Das Programm SelfControl geht noch ein Stückchen weiter. Ist einmal eine Zeit eingestellt, in der man fokussiert arbeiten will, ist das nicht mehr rückgängig zu machen. Ein Neustart des Computers hilft ebenso wenig wie das Programm zu deinstallieren. Wer der Blockade vorzeitig entgehen will, muss schon eine komplett neue Version des Betriebssystems aufspielen.

Der Produktivitätsblocker serviert bizarre Links, die garantiert nichts mit Arbeit zu tun haben

Beweise für den Produktivitätsfetisch der Gesellschaft finden sich allenthalben. Sogar die Spam-Nachrichten und die Werbung, die vor Youtube-Videos geschaltet wird, drehen sich heutzutage nicht mehr nur um Viagra und Penis-Verlängerungen, sondern um die Frage, wie man mit möglichst wenig Aufwand möglichst arbeitsam und erfolgreich und zur "besten Version seiner selbst" wird.

Höchste Zeit, damit aufzuhören, dachten sich Kory Brocious und Steven Nass. Die beiden arbeiten selbst als Art Director und Texter. Es ist also anzunehmen, dass sie mit der Knochenmühle der Kreativbranche durchaus vertraut sind. Der von ihnen als Browser-Erweiterung veröffentlichte Productivity Blocker dreht den Spieß einfach um. Anstatt Seiten wie Youtube oder Instagram zu blockieren, ergeht der Bannstrahl hier auf Outlook, Slack oder Linkedin. Sprachen lernen auf Duolingo ist genauso verboten wie sich die Videos von TED-Konferenzen anzuschauen. Wer sich nicht im Zaum halten kann und versucht, eine der blockierten Seiten anzusteuern, dem serviert der Produktivitätsblocker stattdessen bizarre Links, die garantiert nichts mit Arbeit zu tun haben. Darunter etwa Trampolin-Webshops oder eine Wikipedia-Auflistung von Tieren, die offizielle Berufsabschlüsse haben.

Was zuerst als Witz gedacht war, entpuppt sich in Wahrheit als zielgenauer Hieb in die Magengrube des Zeitgeists. In den Bewertungskommentaren zu der Software schreiben Nutzer, dass sie dank dem Produktivitätsblocker endlich wieder klare Grenzen zwischen Privatleben und Berufsleben ziehen können.

Schließlich ist es ja die Arbeit selbst, die am meisten Ablenkung birgt. Wer einmal einen Tag mit einem halben Dutzend Konferenzen zu den unterschiedlichsten Themen verbracht hat, während gleichzeitig ein Trommelfeuer aus Slack-Nachrichten-Plings und Teams-Channel-Updates niederging, weiß, dass in einer solchen Umgebung an Produktivität überhaupt nicht mehr zu denken ist. Deep Work heißt das Rezept, mit dem Unternehmen ihren Angestellten mehr Fokus verschreiben wollen. Wie es aussieht, ist Deep Freizeit mindestens ebenso wichtig.

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