Netzkolumne:Aberglaube

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Aberglaube als Meme: Tarotkarten mit Hexenpendel. (Foto: Waltraud Grubitzsch/dpa)

Kurzvideos fürs Unterbewusstsein generieren auf Plattformen wie Tiktok Millionen Aufrufe und einen Einblick in die Wünsche und Sehnsüchte der Nutzer.

Von Michael Moorstedt

Das Leben ist mal wieder hart. Im Job tritt man auf der Stelle, die Zähne sind immer noch schief, und im Schlafzimmer ist auch schon lange nichts mehr los. Zum Glück gibt es ausgerechnet auf Tiktok das Gegenmittel. Verabreicht wird es in Form von 15-sekündigen Videos, in denen die Kraft des Unterbewussten beschworen wird. Im Hintergrund hört man Lagerfeuer prasseln oder Wasser rauschen, während eine halblaute Stimme mantrahaft wiederholt, was man sich herbeisehnt.

Sogenannte Subliminals, also unterbewusste Botschaften, sind der neueste Tiktok-Trend. Tausende Clips mit Millionen Aufrufen findet man auf der Kurzvideoplattform. Ebenso altbekannt wie einfallslos sind die Wünsche, die da herbeimanifestiert werden sollen: Schönheit, Reichtum, haufenweise Freunde und hingebungsvolle Liebhaber. Gleichermaßen gibt es so gut wie keine gefühlte Unzulänglichkeit, die nicht flugs weggewünscht werden kann, egal, ob schlecht sitzende Haare, blasser Teint oder übermäßiger Körpergeruch.

Für den unbeteiligten Zuschauer sind die Subliminals vor allem deshalb faszinierend, weil sie die lustigsten und peinlichsten Fantasien seiner Mitmenschen nach außen tragen. Dabei sind die Tiktok-User beileibe nicht die Ersten, die der Faszination des Unterbewussten erliegen. In der wilden Werbewelt in der Mitte des 20. Jahrhunderts versprachen Marketingexperten, Konsumenten durch unterbewusste Botschaften zu Kaufentscheidungen zu treiben. In den 1980er-Jahren konnte man dann per Katalog Autosuggestionskassetten bestellen, die, im Schlaf gehört, zu den gleichen unwahrscheinlichen Resultaten führen sollten.

Die Grenzen zwischen Rollenspiel und Glauben sind fließend

Unterbewusste Botschaften sind nicht die einzige New-Age-Praxis, die mal wieder ein Revival erlebt. Auch Tarotkarten, Astrologie, Heilkristalle und Hexerei sind auf sozialen Medien enorm populär. Populäre Instagram-Accounts, die sich solchen Themen widmen, haben gerne mal Follower im siebenstelligen Bereich und Videos mit dem Hashtag #Witchtok haben auf Tiktok mehr als 45 Milliarden Aufrufe.

Es mag widersprüchlich erscheinen, dass ausgerechnet Esoterik und Okkultes im digitalen Zeitalter florieren, wo doch die ständige Überbelichtung unserer Leben in den sozialen Medien jegliches Mysterium zu zerstören droht. Aber ausgerechnet die Suche nach Ritualen und Ordnung hat sich als fruchtbares Moment für das magische Denken erwiesen, und es findet auf den großen Internetplattformen ein neues Zuhause. Turbulente Zeiten erzeugen eben eine Sehnsucht nach Spiritualität. Um dem Kontrollverlust zu begegnen, greifen die Menschen auf altbekannte Dichotomien zurück. Der gleiche Mechanismus liegt wohl auch dem QAnon-Kult zugrunde. Nur wird da eben mit Satanismus Angst geschürt.

Die Grenzen zwischen elaboriertem Rollenspiel und handfestem Glauben sind dabei fließend. Da gibt es jene, die das Ganze als harmlose Selbstermächtigung betreiben, die einen wollen nur ein bisschen Geld machen, die anderen liefern sich stundenlange magische Duelle via Livestreaming-Plattformen, und dass die Séancen gerne mal per Videokonferenz abgehalten werden, darin sieht auch niemand einen Widerspruch.

Die digitale Umwelt, in der das Ganze stattfindet, ist, wenn man so will, sogar die naheliegendste. Schließlich sind die undurchsichtigen Algorithmen der großen Tech-Konzerne und ihr stetes Wirken im Hintergrund unseres Lebens die größtmögliche Annäherung an Zauberei, die wir haben.

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