Natasha Browns Roman "Zusammenkunft":Die Alternativlosigkeit ihrer Lage

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Es überwiegt das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören: Die britische Autorin Natascha Brown. (Foto: Suhrkamp Verlag)

Über das mächtige Märchen von der sozialen Mobilität: Natasha Browns Roman "Zusammenkunft" erzählt von den Schwierigkeiten des sozialen Aufstiegs im Großbritannien der Gegenwart.

Von Carlos Spoerhase

Ein Buch, in dem vordergründig nicht viel passiert: ein Vortrag, eine Beförderung, eine Diagnose und ein Besuch auf dem Land. Eine Protagonistin, die namenlos bleibt und mit wenigen biografischen Eckdaten umrissen wird: eine junge britische Frau, deren Eltern vor ihrer Geburt aus der Karibik eingewandert sind und der eine glänzende Karriere im Finanzwesen gelungen ist. Aufgrund ihres Erfolgs hält sie für ihren Arbeitgeber an Schulen Vorträge über Diversität.

Die Zusammenkunft, die dem Roman seinen Titel gibt, spielt sich an einer Londoner Schule ab, wo sie von den sozialen Aufstiegsmöglichkeiten in ihrer Bank berichtet: "Es ist eine Geschichte. Sie handelt von Herausforderungen. Von harter Arbeit. Sich am Riemen reißen. Hochgerollten Hemdsärmeln ... Ich trage meine alten Sätze vor wie neue Weisheiten. Klicke zur nächsten Folie. Hinter mir lächeln riesige, diverse Gesichter in grauen Anzügen, zeigen auf Grafiken, schütteln Hände und winken." Natürlich bürgt sie in dieser Situation mit ihrer Biografie für das meritokratische Versprechen des gesellschaftlichen Aufstiegs durch individuelle Leistung.

Belügt die Protagonistin ihr junges Publikum? Das ist nicht leicht zu beantworten: Die Anstellung in der Londoner City hat ihr tatsächlich erlaubt, sich einen Weg von der Unterschicht in die Mittelschicht zu erkämpfen. Der Erfolg manifestiert sich in einer smarten Garderobe, einer stilvollen Eigentumswohnung in einem Townhouse. Sie kann sich nun eine private Krankenversicherung leisten, die ihr Besuche in luxuriösen Arztpraxen ermöglicht. Sie lässt ihr Vermögen von einem Berater verwalten und findet auch Anschluss an die britische Oberschicht. Ihr Freund stammt aus einer aristokratischen Familie.

Natascha Brown: Zusammenkunft. Roman. Aus dem Englischen von Jackie Thomae. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 113 Seiten, 20 Euro. (Foto: Suhrkamp Verlag)

Dies alles spielt sich in dem Roman der britischen Debütautorin Natasha Brown ab, die in Cambridge studiert und selbst über viele Jahren im Londoner Finanzsektor gearbeitet hat. In knappen Sätzen und auf kaum mehr als 100 Seiten werden in einer Folge atmosphärisch dichter Vignetten, die Beobachtung und Reflexion kunstvoll verschränken, Alltagsszenen aus dem Leben der Aufsteigerin skizziert: Kollegen, die übergriffig sind und dann beteuern, es sei doch eigentlich gar nichts geschehen; Männer, die so tun, als könnten nur Frauen Kaffeemaschinen bedienen; Mitmenschen, die unterstellen, sie müsse aus Afrika kommen.

Mehr noch als diese Vignetten über die Ausgrenzungserfahrungen im Alltag erschüttert bei der Lektüre aber die Reaktionsweise der erfolgreichen Frau: Sie nimmt die diskriminierenden Überschreitungen geduldig hin. Von den ersten Spielplatzbeschimpfungen bis zur Belästigung am Arbeitsplatz hat sie sich antrainieren müssen, sich am besten nichts anmerken zu lassen. Weshalb partout nicht auffallen wollen? Wohl weil das Gefühl überwiegt, nicht wirklich zum Großbritannien der Gegenwart dazuzugehören.

Die in großen Lettern mit "Go Home" beschrifteten Lieferwagen, die 2013 im Rahmen einer vom britischen Innenministerium verantworteten Kampagne gegen illegale Immigration durch London fuhren, spielen auch in Browns Roman eine Rolle, nähren sie doch in der Protagonistin den Zweifel, nur eine britische Staatsbürgerin auf Widerruf zu sein. Dieser Zweifel artikuliert sich zudem in dem veritablen Rechtfertigungszwang, man sei der britischen Gesellschaft nichts schuldig geblieben: "Ich zahle meine Steuern, jedes Jahr. Alles, was für mich ausgegeben wurde: Bildung, Gesundheitsversorgung, was noch - Straßen? Ich habe alles zurückgezahlt. Und mehr. Ab jetzt ist alles Profit. Ich bin, was wir immer für das Empire waren: purer Scheißprofit." Aber kann man jemals heimisch werden, wo man nicht als Staatsbürgerin, sondern bloß als Steuerzahlerin geschätzt wird?

Geschichten über Jamaika helfen nicht, ein mögliches Selbstverständnis zu formulieren

Wo aber könnte eine Heimat zu finden sein? Gerade hier unterscheidet sich "Zusammenkunft" von anderen Romanen, die in jüngerer Zeit den sozialen Aufstieg thematisiert und dabei die Rückkehr an den familiären Herkunftsort der Protagonistinnen und Protagonisten ins Zentrum gestellt haben. "Zusammenkunft" verbietet sich ein Erzählmodell, das die eigene Wahrheit in persönlichen Ursprüngen findet - und widmet der Herkunft der Familie der Protagonistin wenig mehr als einen distanzierenden Satz: "Ich kenne Jamaika nur aus Erzählungen." Geschichten über die eigene Herkunft bieten keinen sicheren Anker für ein mögliches Selbstverständnis.

Auch die Vorstellung einer freien Innerlichkeit, die sich unter allen gesellschaftlichen Zwängen freilegen ließe, wird zurückgewiesen: "Wenn ich für einen Abend alleine bin, in diesem geschmackvollen Zuhause, das ich mir eingerichtet habe, streife ich die Kleidung des Tages ab. Schäle Schichten, Stoffe von meiner Haut, bis nichts mehr darunterliegt. Doch nichts weiter offenbart sich, kein verstecktes Selbst, keine Nacktheit."

Der Feierabend legt kein unverfälschtes Selbst unter dem Kostüm frei. Und selbst die eigene Liebesbeziehung erscheint ihr kompromittiert. Der reiche Oberschichtssohn strebt, wie die Protagonistin zynisch bemerkt, eine politische Karriere an und möchte sich durch die Liaison mit ihr "eine gewisse liberale Glaubwürdigkeit" verschaffen - natürlich, ein moderner Aristokrat müsse sich als Brückenbauer "zwischen den Kulturen" inszenieren.

Der Erzählerin fehlt die Fantasie, sich ein anderes Leben auch nur vorzustellen

In "Zusammenkunft" gibt es keine Reservate des richtigen Lebens und keine Auswege aus dem falschen. Das "kompromisslose Streben" nach akademischem und beruflichem Erfolg hat die Protagonistin voll und ganz in ein falsches Leben hineinsozialisiert, zu dem es nun keine Alternative mehr zu geben scheint. Und woher sollte auch ein anderer Lebensentwurf kommen, sie hat ja rund um die Uhr an ihrem sozialen Aufstieg gearbeitet.

Die Alternativlosigkeit ihrer Lage wird an nichts so deutlich erkennbar wie an dem vollständigen Fehlen von Imaginationskraft: Die einzige Alternative, die der Protagonistin zu ihrer karrieristischen Lebensweise einfällt, ist der eigene Tod. Als sie fast parallel zu einer weiteren Beförderung eine Krebsdiagnose erhält, erwägt sie, auf die Behandlung zu verzichten. Die Erkrankung tritt ihr plötzlich als einzige Chance entgegen, den "endlosen Aufstieg zu beenden". Das ewige Streben nach gesellschaftlichem Erfolg hat die Fähigkeit vernichtet, sich die Welt auch nur ein wenig anders vorzustellen.

"Zusammenkunft" wurde zu Recht dafür gelobt, dass darin auf beeindruckend konzentrierte Weise von vielfältig verschränkten Diskriminierungserfahrungen erzählt und dem mächtigen Märchen von der segensreichen sozialen Mobilität eine Absage erteilt wird. Derartige Lektüren liegen nahe, übersehen aber die subtile Ironie, die in der Erzählung immer wieder aufblitzt. So sieht die Protagonistin mit zunehmender Sorge, wie gut es ihr gelingt, ihre falsche Erwartungen weckende Aufstiegsgeschichte in Schulen weiterzuverbreiten. Soll sie der nächsten Generation also doch reinen Wein einschenken und den illusorischen Charakter der Meritokratie mit scharfen Worten geißeln?

Es zeichnet den Roman aus, dass er seiner eigenen Form gegenüber skeptisch bleibt

Ihr Freund, der sich gelegentlich als politischer Redenschreiber engagiert, rät davon ab: Sie solle ihr gesellschaftskritisches Anliegen besser in eine Geschichte verpacken, am besten eine, die sich mit ihrem persönlichen Schicksal verbinden lasse - das wirke noch authentischer. Eine ironische Pointe, die das Erzählmodell von "Zusammenkunft" selbst trifft: In einen "erzählerischen Bogen" sind die politischen Probleme auch im Roman von Brown eingepasst; auch er folgt dem Schicksal einer Heldin, die sich am Schluss vielleicht doch noch von den gesellschaftlichen Zumutungen emanzipieren und für das Leben entscheiden wird.

Ist auch "Zusammenkunft" also nur eine weitere Episode der großen Erzählung von der Bewältigung des sozialen Aufstiegs? Es zeichnet diesen Roman aus, dass er seiner eigenen Form gegenüber skeptisch bleibt; dass er bis zum Schluss offenhält, ob sich seine Geschichte weit genug von dem gängigen story telling entfernt hat, das die Aufsteigerin bei ihren Schulauftritten so virtuos praktiziert.

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