Spätantike in Norditalien:Ein Mosaik im Osten

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Eine spätantike Tyche. Diese Göttin sollte der Stadt Glück bringen, deren Mauern sie auf dem Kopf trug. (Foto: Classis Ravenna)

In Ravenna trafen einst Byzanz und Rom aufeinander. In einer ehemaligen Zuckerfabrik wird dort nun die Geschichte der spätantiken Kulturbegegnung erzählt.

Von Thomas Steinfeld

In Italien scheint es seit den Tagen des Römischen Reichs eine ununterbrochene kulturelle Tradition zu geben. Diese Linie verläuft zwar durch Ruinenlandschaften und finstere Zeiten. Aber sie ist immer gegenwärtig, und sie verläuft immer westlich, von Sizilien über die italienische Halbinsel bis nach Verona und hinauf zu den großen Städten des Nordens, nach Paris oder nach Augsburg.

Dass an dieser Geschichte etwas nicht stimmen kann, wird spätestens offensichtlich, sobald man vor der Markuskirche in Venedig steht: Die fünf Kuppeln, aber auch die Vorhalle, haben keine Vorbilder in Rom, ebenso wenig wie die Mosaiken. Die Muster für diese Basilika standen in Konstantinopel. Die venezianischen Baumeister arbeiteten im byzantinischen Stil, weil sie ihn gut kannten und wohl für ehrwürdig hielten. Byzanz, oder Ostrom, war ein wesentlicher Teil der Welt, aus der sich das Italien der Spätantike und des frühen Mittelalters zusammensetzte. Wer genau hinschaut, wird einen byzantinischen Einfluss in ganz Italien erkennen, einschließlich Rom, bis hin ins 14. Jahrhundert.

Über fast zweihundert Jahre, von der Mitte des sechsten bis zur Mitte des achten Jahrhunderts, gehörten, mit Unterbrechungen und bei oft unklaren Grenzverläufen, die Küstenlandschaften zwischen dem heutigen Istrien und Ancona zum oströmischen Reich. In Ravenna regierte der Exarch, der Statthalter Konstantinopels. Sichtbar sind der byzantinische Stil und seine Folgen an der prächtigen Abtei Pomposa im Mündungsgebiet des Po zum Beispiel, und in Ravenna und Umgebung sowieso, nicht zuletzt in Gestalt der Kirche Sant'Apollinare in Classe, an einem Ort, der heute eine Vorstadt Ravennas ist und einst einer der wichtigsten Häfen Ostroms war. Diese Kirche besteht aus einem großen, aus Ziegeln errichteten Langbau mit einem freistehenden runden Glockenturm, der später hinzugefügt wurde. Ein wenig verloren steht das alte Gotteshaus nun in einer Siedlung, die im Wesentlichen in den vergangenen Jahrzehnten entstanden ist. Da trifft es sich gut, dass sich in wenigen hundert Metern Abstand ein zweiter, noch größerer Ziegelbau erhebt, auch wenn ihm der Turm (ein Schornstein) abhandengekommen ist: eine ehemalige Zuckerfabrik, etlichen Zuckerfabriken ähnlich, die sich heute meist als Ruinen über die Ebene des Po erheben.

Diese Zuckerfabrik, kürzlich für 22 Millionen Euro in einen Ausstellungsbau verwandelt, birgt ein Museum zur Geschichte Ravennas zwischen der Spätantike und der Eroberung Norditaliens durch die Langobarden im ausgehenden 8. Jahrhundert. "Classis" heißt das Museum, in einem Wortspiel, in dem sich die Klassik, der Name des Ortes und die Bezeichnung einer antiken, im Hafen von Ravenna stationierten Flotte ("classis Ravennas") vereinen.

Selten hat man ein Museum gesehen, in dem so viel Raum zur Verfügung steht: Ein großer Parcours führt durch die Geschichte der Region, gegliedert in Politik und Geografie, Architektur und Lebensformen, Kunst und Technik, und obwohl es, bedingt durch die raschen Wechsel der Herrschaftsverhältnisse in jener Zeit, viel zu zeigen und zu erklären gibt, ist neben erstaunlich vielen historischen Exponaten immer noch Platz für Rekonstruktionen von Gebäuden und Hafenanlagen, für ausgedehnte Stellwände und digitale Animationen.

Ravenna war die letzte Hauptstadt des einigen römischen Reiches und die Hauptstadt der Ostgoten. Sie war strategisch gut gelegen und, mit ausgedehnten Sümpfen auf der westlichen und dem Meer auf der östlichen Seite (ähnlich wie Venedig), leicht zu verteidigen. Und wenn die Herren wechselten - oder sich, wie die Goten und die Langobarden, den römischen Lebensformen anglichen -, so ließ doch ein jeder nicht nur zahlreiche, sondern auch eigenartige Dinge zurück, die sich ausstellen lassen: Waffen und Küchengerät, Schmuck und landwirtschaftliches Gerät, Sarkophage, Götterstatuen und Denkmäler.

Ein passendes Gehäuse: Das neue Museum "Classis" in Ravenna. (Foto: N/A)

Während aber der Papst in Rom blieb und die Linien der Tradition dort nicht unterbrochen wurden, verlor Ravenna im Mittelalter an Bedeutung, die Stadt wurde zu einer regionalen Macht, wie es Ancona oder Rimini auch waren, und ging dann in den Kirchenstaat ein. Der Bruch der Kontinuität mag, historisch oder besser noch: archäologisch betrachtet, indessen einige Vorteile gehabt haben. Denn was sich in Ravenna und Umgebung noch an Vergangenheit befand, fiel weder dem Bilderstreit noch Wiederverwendungen zum Opfer: daher die große Zahl erhaltener Mosaiken aus byzantinischer Zeit, daher die überraschende Gegenwart von etwas Fremdem, das sich scheinbar nicht in die Tradition fügt, mitten in einer ganz italienisch anmutenden Umgebung.

Und schließlich ist auch die Zuckerfabrik, in der diese verschiedenen Vergangenheiten nun aufbewahrt und gezeigt werden, ein solches Relikt, über das die Zeit hinwegging, ohne es substanziell zu zerstören. Im Gegenteil, nun steht sie da, ein gewaltiges Ding, dessen Bestimmung von außen nicht zu erkennen ist, das vielmehr wie ein seltsam unzeitlicher Tempel anmutet: ein passendes Gehäuse für eine Geschichte, die im Grunde römisch ist, aber dann weit nach Osten und nach Norden weist.

© SZ vom 09.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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