Münchner Kammerspiele:Was das Theater mit dem Terror macht

Uraufführung ´Point of no return"

Eine Seilschaft der Ängstlichen: Niels Bormann, Jelena Kulji, Damian Rebgetz, Dejan Bućin und Wiebke Puls (v.l.).

(Foto: dpa)

Die Regisseurin Yael Ronen hat sich in "Point of No Return" mit dem Münchner Amoklauf beschäftigt. Ein erstaunlich komischer und befreiender Abend.

Von Christine Dössel

Die Inszenierung beginnt mit einer Warnung wie auf einer Zigarettenschachtel: "Guten Abend, ich möchte Sie an etwas Unangenehmes erinnern, Sie werden sterben", adressiert Niels Bormann das Publikum und verweist darauf, dass dies vielleicht schon "heute Abend" passieren könne: "Jetzt!" Damit sind die Wände für den Angstkorridor des Abends eingezogen, und das ziemlich eng. Die Vorstellung, jemand könnte einen Anschlag im Theater verüben, ist so abwegig nicht, man denke an die Geiselnahme im Moskauer Musicaltheater 2002 oder an die Terrornacht im Pariser Bataclan. Im Grunde, da haben die fünf Hysteriker auf der Bühne schon recht, ist das Theater sogar der ideale Ort für einen Anschlag. Jeder im Publikum könnte ein Terrorist sein. Ist es nicht generell verdächtig, wenn Leute ihr Haus verlassen, wo man doch heutzutage alles online bestellen kann?

"Point Of No Return" heißt das Stück in den Münchner Kammerspielen, das die Zuschauer geradeheraus bei ihren Ängsten packt und damit ein schwarzhumoriges Spiel treibt - eine Stückentwicklung der israelischen Regisseurin Yael Ronen, die sonst vor allem am Berliner Maxim Gorki Theater arbeitet.

Jeder erzählt, was er gemacht und gedacht hat am Abend des Münchner Amoklaufs

In ihrer ersten Münchner Inszenierung wollte sich die 40-Jährige eigentlich mit der Zukunft des Beziehungslebens in Zeiten von Dating-Apps, Körperimplantaten und Cyber-Sex beschäftigen. Doch dann, man hatte schon angefangen zu proben, kam es am 22. Juli zum Amoklauf im Münchner Olympia-Einkaufszentrum, bei dem der 18-jährige David S. neun Menschen und sich selbst erschoss. Der Schreckensabend, an dem es von Panik- und Falschmeldungen nur so wimmelte und twitterte, änderte alles. Yael Ronen und ihr Team ließen ab vom Zukunfts-Sex, um sich den "komplexen psychologischen Dynamiken eines jeden Einzelnen während solcher Attentate" und dem Thema Terror im Allgemeinen zuzuwenden.

Herausgekommen ist ein sympathischer, erstaunlich komischer, sehr kreativer und zumeist auch kluger Theaterabend, der zwar über die dunklen Tiefen des Themas und die realen Toten, die es bei der Schießerei im OEZ zu beklagen gab, allzu forsch hinwegwitzelt. Der aber durch die Auflösung vielerlei Ängste im Gelächter auch etwas Befreiendes hat.

Die erste halbe Stunde ist großartig. Wie bei all ihren Arbeiten ging Yael Ronen bei den Proben von den persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen der Schauspieler aus, daraus entwickelte sich dann der Text: kein richtiges Stück, keine Literatur, sondern eine aus Improvisationen und Impressionen zusammengesetzte, weder Koketterien noch Banalitäten scheuende Spielvorlage.

Die Aufregung ist so groß wie die Eitelkeit

Jeder berichtet erst mal, wo er war und was er empfunden hat beim vermeintlichen Münchner Terroranschlag. Dabei wird das Ensemble in dem faszinierend irritierenden Spiegelraum von Wolfgang Menardi, in dessen Rückwand auch das Publikum sich sieht, ganz und gar auf sich selbst zurückgeworfen. Dieser Bühnenraum ist so schräg und steil, dass die Darsteller ständig abzurutschen drohen. Daher sind sie anfangs aneinandergeseilt wie Bergsteiger, jeder den anderen absichernd: eine Seilschaft der Ängstlichen, gekleidet in scheußliche Skianzüge für den Outdoor-Fun. Die Aufregung ist so groß wie die Eitelkeit, wenn sie atemlos von ihren Erlebnissen berichten und sich gegenseitig an Dramatik zu überbieten trachten, während durch irre Videoprojektionen der Untergrund regelrecht zu schwanken beginnt, sie schier den Boden unter den Füßen verlieren.

Dejan Bućin, Gast aus Berlin, war am Amokabend in einem Billig-Discounter in der Innenstadt, um Socken im Angebot zu kaufen. Sehr lustig seine Erzählung, wie er sich verpflichtet fühlte, seinen 1966 Facebook-Freunden alles genau zu posten, er aber nur noch vier Prozent Akku hatte. Die Suche nach einem Ladekabel für sein Handy endete tödlich: "In diesem Moment starb das Handy in meinen Armen."

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