Münchner Kammerspiele:Dieses Lied den Liebenden

Lesezeit: 4 min

Das Stück "Like Lovers Do (Memoiren der Medusa)" von Sivan Ben Yishai handelt von Sex und Gewalt. Es ist hart und radikal feministisch. Aber braucht es eine Triggerwarnung?

Von Christine Dössel

Achtung, die Münchner Kammerspiele haben vor die Inszenierung "Like Lovers Do (Memoiren der Medusa)" eine Triggerwarnung gesetzt. Der Text enthalte "Schilderungen von sexualisierten Gewalthandlungen, die belastend und re-traumatisierend wirken können". Sind die Theater schon so übervorsichtig, dass sie vor Kunst warnen müssen? Man versendet innerlich ein Augenroll-Emoji. Andererseits ist Sivan Ben Yishais Sprache wirklich sehr krass, sehr explizit, und das, was sie damit erzählt, schließt sexuelle Perversionen ebenso ein wie Gewaltpornografie, Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, Mord. Das sollte man vielleicht doch wissen, bevor man sich einen unbeschwerten Abend im Theater geben möchte. Kann aber auch sein, dass das Alarmsignal einige erst lockt. "Lasst uns ehrlich sein - Triggerwarnungen verkaufen sich", heißt es, nur halb ironisch, im Text.

Dieser Text, eine sogenannte Textfläche ohne Rollenzuschreibungen und Szenenanweisungen, überzeugt durch seine radikal schamlose, radikal selbstbewusste weibliche Perspektive ebenso wie durch seine sprachliche Komposition und Kraft. Zur Drastik gesellt sich eine entlarvende Komik. Sivan Ben Yishai wurde 1978 in Tel Aviv geboren, studierte in Israel Theaterregie und szenisches Schreiben und lebt seit 2012 in Berlin. Schon in ihrem Stück "Liebe/ Eine argumentative Übung" demontierte sie anhand eines Paares überkommene Romantik- und Beziehungsdenkmuster und betrieb gleichzeitig eine feministische Selbsterkundung.

Medusa war das erste Opfer von Victim Blaming

In "Like Lovers Do (Memoiren der Medusa)" blickt Ben Yishai nun grundsätzlicher auf die Strukturen von sexualisierter Gewalt. Das geht von übergriffigen Verwandten, Politikern, Professorinnen über Vergewaltigung in der Ehe bis hin zu Menschenhandel, Folter, Versklavung. Nicht nur Frauen sind Opfer, auch Menschen mit Penis. Geschrieben ist das wie eine Litanei, wobei die Autorin selber von einem "Lied" spricht: "Dieses Lied ist den Liebenden gewidmet. Den Lovern, die auf mir lagen, einer nach dem anderen, unter der Sonne." So reiht sie eine Widmung an die nächste, nach dem Prinzip der Widmung von Lovesongs: "Dieses Lied ist dem gewidmet, der mein Haar streichelte, während ich seinen Schwanz lutschte, und auf mich herab sah, von oben, wie ein Vater." Oder: "... dem, der seinen Finger in meine Vagina steckte, als würde er ein Auto reparieren." Oder: "An den, der mir die Kehle durchschnitt, während er kam."

Typen mit Selfiesticks, die in Vaginalöffnungen zoomen, Vergewaltiger, Exhibitionisten, Sextouristen. Die einen, die grapschen und gaffen, die anderen, die wegschauen oder applaudieren. Es ist eine finstere Parade, mythologisch gerahmt vom Schicksal der Medusa, die der Sage nach vom Meeresgott Poseidon in Athenes Tempel vergewaltigt wurde. Woraufhin Athene ihren Zorn nicht etwa an Poseidon ausließ, sondern an Medusa, die sie in die bekannte Monstergestalt verwandelte, deren Anblick jeden zu Stein erstarren lässt. Medusa kann mithin als das erste Opfer von Victim Blaming betrachtet werden, so die Lesart der Kammerspiele-Dramaturgie. Von deren Seite heißt es auch, das Stück sei "eine moderne Vermessung des patriarchalen Geschlechtermodells als kultur- und epochenübergreifendes Gewaltsystem, das sich durch Duldung und Unterstützung reproduziert". Uff.

Auf der Bühne wird dieser kulturhistorisch-intellektuelle Deutungsansatz dann aber nicht verfolgt, keine Angst. Die Inszenierung von Pınar Karabulut ist niedrigschwellig in kunterbunter Hüpfburgatmosphäre angesetzt, um nicht zu sagen: anti-intellektuell, auch anti-brutal. Jedenfalls unterläuft sie mit allen Mitteln, von den poppigen Kostümen (Teresa Vergho) über die comic- und zombiehafte Spielweise bis hin zur nervenreizenden Synthesizer-Soft-Popmusik (Daniel Murena), die Härte des Textes. Pınar Karabuluts Hang zu grässlich kombinierten Neonfarben und ästhetischen Geschmacksverirrungen muss man mögen. Er kann auch wehtun. Falls er das soll, hat die auf fröhliches "Empowerment" gepolte Regisseurin ihr Ziel erreicht. Gemütlich wird es jedenfalls trotz des Spaßangriffs nicht, dazu verweist dann doch zu vieles auf Degenerierung, Störung, Fehlentwicklung.

Der starke Mann hat's auch nicht leicht. Dauernd muss er liefern

Die scheußliche Bühne (Michela Flück) zeigt eine Mischung aus Boudoir und patriarchalem Palast, ausgestattet mit einer senfgelben Vorhangwand, einem Wasserbecken im Boden und vier raketenförmigen Gummisäulen. Zwei dieser aufblasbaren Säulen, aus denen alsbald die Luft weicht, zeigen am Sockel einen umgedrehten Medusakopf wie in der berühmten Yerebatan-Zisterne in Istanbul. Es gibt viele solcher Zitate. Man muss sie nicht alle verstehen, so wie man im choreografischen Gewimmel und Sound-Gewummer auch den Text oft nicht versteht (und froh ist drum).

Gro Swantje Kohlhof, Jelena Kuljić, Bekim Latifi, Edith Saldanha und Mehmet Sözer bilden ein dynamisches Kollektiv aus Textperformern, permanent in Bewegung. Ein fünfstimmiger Chor, aus dem sich einzelne Stimmkörper herauslösen. In ihren Trashkostümen sehen sie wie Fabelwesen aus, klingonische Superhelden. Sie entsprechen jenen "fünf besten Freundinnen", die in Ben Yishais Text den zweiten Grundstrang bilden. Fünf Mädchen, die sich in einem Oma-Café ihr Leben an der Seite ihres Traummannes erträumen. Dabei reproduzieren sie die uralten Rollenbilder von der kleinen, dünnen Frau an der Seite des viel größeren, älteren, stärkeren Mannes mit der breiten Brust zum Anlehnen, all die internalisierten Geschlechterstereotypen und Verhaltensweisen, die sich dann durchziehen bis in ihr Sex- und Eheleben. Eine mit Zwischenapplaus bedankte Bravournummer hat Bekim Latifi, wenn er in grotesker Überforderung die Ansprüche herausschleudert, die an ihn als Mann gestellt werden ("Schwängere mich! Geh und kämpf für mich! Finanziere mich!").

Dem Beispiel der Amerikanerin Lorena Bobbitt folgend, die ihrem Vergewaltiger-Mann einst den Penis abschnitt, spielt Ben Yishai am Ende ihres Textes eine Kastrationsfantasie durch - mit der Utopie, das Geschlechtsteil als Pars pro Toto verrotten und eine Busladung voll mit patriarchalen, heteronormativen Geschlechterklischees in den Abgrund rasen zu lassen. Ähnlich wie in "Thelma & Louise". Eine Kinofantasie, "Tarantino-Style". Die Autorin ermächtigt sich zur "inglorious Poetin". Bei Karabulut ist das alles viel lieber und süßer. Aufgerüscht mit Schaumstofftentakeln, Zusatzgliedern und Filzzacken mutieren die fünf Schauspieler zu übergeschlechtlichen Mischwesen. Und dann heben sie in einem glitzernden Spaceschiff ab. Statt Höllen- eine Himmelfahrt.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Dramatik-Festival FIND
:Theater der Grausamkeiten

Wie weit kann man auf der Bühne gehen? Die Hardcore-Performerin Angélica Liddell und der Schriftsteller-Star Èdouard Louis zeigen an der Berliner Schaubühne ihren Schmerz.

Von Peter Laudenbach

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: