Mülheimer Dramatikpreis:Familiengeschichten und Superfrauen

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Wilder Ritt durch das vergangene Jahrhundert, vom Holocaust bis zur Gründung Israels: Szene aus "Wounds Are Forever" von Sivan Ben Yishai am Nationaltheater Mannheim. (Foto: Christian Kleiner)

Die Auswahl für die Mühlheimer Theatertage steht: Eine auffallend junge und weibliche Szene tritt auf den Plan.

Frauen dominieren in diesem Jahr die Mülheimer Theatertage. Sechs der sieben uraufgeführten Stücke, die vom 7. bis zum 28. Mai ins Rennen um den renommierten Mülheimer Dramatikpreis gehen, sind von Autorinnen. Die bekannteste ist die österreichische Literaturnobelpreisträgerin und Mülheim-Rekordhalterin Elfriede Jelinek, die schon zwanzig Mal dabei war und den Preis schon vier Mal gewonnen hat. Mit "Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!", uraufgeführt von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, hat sie das Stück zur Pandemie geschrieben: eine böse Kakofonie aus Nachrichten, Gerüchten und Verschwörungsmythen, die vom frühen Corona-Hotspot Ischgl bis zum Infektionsgeschehen in der Fleischfabrik Tönnies führt.

Die anderen Nominierten gehören zu einer neuen, jungen Generation deutschsprachiger Dramatikerinnen, viele zum ersten Mal in Mülheim vertreten, so wie die Münchnerin Nora Abdel-Maksoud. Mit "Jeeps", von ihr selber uraufgeführt an den Münchner Kammerspielen, ist der 39-Jährigen eine rasante Behörden- und Klassismussatire zum Thema Erben in Deutschland gelungen. Eine Mülheim-Debütantin ist auch die Österreicherin Teresa Dopler, Jahrgang 1990, eingeladen mit ihrem Stück "Monte Rosa" (Schauspiel Hannover), das als absurdes Bergsteigerdrama daherkommt, im Unterbau vor allem aber von Selbstoptimierung und Empathielosigkeit erzählt. Die Berliner Newcomerin Sarah Kilter, geboren 1994, hinterfragt in "White Passing" (Schauspiel Leipzig / Deutsches Theater Berlin) als Deutsche mit nichtdeutschen Wurzeln Milieu- und Identitätszuschreibungen.

Oben auf dem Gipfel wird die Luft dünn: Szene aus "Monte Rosa" von Teresa Dopler am Staatstheater Hannover, mit (von links) Mathias Max Herrmann, Lukas Holzhausen, Nikolai Gemel. (Foto: Kerstin Schomburg)

Auch die in Berlin lebende Autorin Sivan Ben Yishai schreibt sich selber in ihr Stück ein. In "Wounds Are Forever" (Nationaltheater Mannheim) thematisiert sie ihr Leben als Israelin in Deutschland, indem sie in Begleitung einer deutschen Schäferhündin durch die Zeiten surft und sich eine abenteuerliche Superwoman-Vita zusammendichtet. Es ist ein wilder Ritt durch die eigene Biografie und das vergangene Jahrhundert, vom Holocaust über die Gründung Israels bis heute. Helgard Haug, weiblicher Part des Regiekollektivs Rimini Protokoll, ist mit ihrem Soloprojekt "All right. Good night." (HAU Berlin) vertreten. Sie verbindet darin die Demenzerkrankung ihres Vaters mit dem Absturz einer Maschine der Malaysia Airlines zu einem Abend über das Verschwinden. Einziger Mann in der Auswahl ist der 1991 in Essen geborene Akın Emanuel Şipal mit dem Stück "Mutter Vater Land" (Theater Bremen), eine türkisch-deutsch-schlesische Familiengeschichte.

"Nicht nur das Niveau vieler Stücke war hoch, auch die Vielfalt war groß - thematisch und formal. Die zeitgenössische Dramatik lässt sich von schwierigen Zeiten nicht unterkriegen", resümierte Jurysprecher Wolfgang Kralicek bei der Bekanntgabe der Auswahl. Der mit 15 000 Euro dotierte Mülheimer Dramatikpreis wird Ende Mai nach den Aufführungen der Stücke in Mülheim an der Ruhr von einer Jury in öffentlicher Diskussion vergeben.

Im gleichen Zeitraum findet auch der Kinder-Stücke-Wettbewerb statt, der mit weiteren 15 000 Euro dotiert ist. Dafür wurden fünf Werke ausgewählt. Viele beschäftigten sich mit Identitätsfragen, sagte die Kinder-Stücke-Juryvorsitzende Theresia Walser - so etwa das im Münchner Pathos-Theater uraufgeführte Stück "Als die Welt rückwärts gehen lernte" von Lena Gorelik, eine Theaterfantasie über eine Anders-Welt, in der Kinder sich mit Nutella die Zähne putzen und Jungs am liebsten Kleider tragen. Die weiteren nominierten Kinderstücke sind: "Zeugs" von Raoul Biltgen, "Die seltsame und unglaubliche Geschichte des Telemachos" von Felix Ensslin, Galia De Backer und Ninon Perez, "Oma Monika - was war?" von Milan Gather und "Der fabelhafte Die" von Sergej Gößner.

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