Theater:Sechs Stunden Gefühl

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Das Münchner Residenztheater zeigt Matthew Lopez' gefeiertes Stück "Das Vermächtnis" über Schwulsein in New York. Gelingt das kitschfrei?

Von Yvonne Poppek

Wie soll die Geschichte beginnen? Eine kuriose Frage am Anfang eines mehr als sechsstündigen Theaterabends. Neun junge Männer, alle schwarz gekleidet, Notizbuch, Laptop, Roman in der Hand, arbeiten sich zunächst vorne an der Bühnenrampe an dieser Frage ab. Ein paar Minuten nur, bevor "Das Vermächtnis" nach und nach seine ganzen Ausmaße entfaltet. Blickt man dann, eine Nacht später, auf den Abend zurück, so lässt sich genauso gut fragen: Wo beginnt man, um von dieser überreichen, umjubelten Premiere von Matthew Lopez' zweiteiligem Bühnenepos am Münchner Residenztheater zu erzählen? Es ist ein so satter Abend, präzise, ausbalanciert, von großer Wahrhaftigkeit, auch mit dem Mut, dick aufzutragen. Und es ist ein Abend der Schauspieler, die das Publikum mit Leichtigkeit durch die zwei Teile tragen oder eher: mitreißen.

Also zunächst mal beim Text beginnen. Das vielfach gelobte Stück "Das Vermächtnis" ist angesiedelt in der schwulen Community in New York in den Jahren 2015 bis 2018. Der amerikanische Dramatiker Lopez begleitet seine beiden Protagonisten Eric Glass und Toby Darling, zwei kultivierte und eloquente Mitdreißiger, durch die Höhen und Tiefen ihrer Beziehung und weiteren Beziehungen. Ihnen stellt er das ältere Pärchen Henry und Walter gegenüber, die beide die verheerende HIV-Epidemie in der Achtzigerjahren durchlebt haben. In großen Bögen erzählt Lopez von der LGBTQ-Community, von Aids, von Sterben, Trauer und Wahrheit. Er wirft die Fragen auf, woher die Freiheit der heutigen Generation von Homosexuellen überhaupt kommt. Wer hat für die Freiheit, für die Rechte gekämpft, wer konnte das überhaupt? Und sind diese heute sicher, wenn Politiker wie Donald Trump an die Macht gelangen? Dessen Wahl weist Lopez in seinem Stück eine ganze Szene zu, als Drohkulisse für die Gay Community. Auch erzählt Lopez von der Aids-Epidemie und von dem großen, totgeschwiegenen Trauma, das sie verursachte. Wie geht die heutige Gesellschaft mit diesem Vermächtnis um? Die schwule Gemeinschaft bröckelt, das klingt bei Lopez durch.

Es darf ruhig mal triefen, der Abend rutscht darauf nicht aus

Angelehnt ist das Epos an Motive aus E.M. Forsters Roman "Howards End", was eine schöne, zarte Metaebene in diesen Theatertext einwebt. "Das Vermächtnis" wurde 2018 in London uraufgeführt, am Residenztheater ist es erstmals auf Deutsch zu sehen. Philipp Stölzl hat hier die Regie übernommen. Er ist gleichermaßen auf der Bühne wie auch im Film Zuhause, zuletzt kam seine Adaption der "Schachnovelle" in die Kinos. Dem Abend ist anzumerken, dass hier einer am Werk ist, der mit Timing und Tempo des Films vertraut ist, mit Cliffhangern, mit raschen Wechseln. Stölzl scheut sich auch nicht vor dem Melodramatischen, das auf der Bühne oft nur leise oder ironisch gebrochen funktioniert. In diesem "Vermächtnis" darf es ruhig auch einmal schön triefen, ausrutschen wird der Abend darauf nicht.

Der hebt nun also an mit den neun jungen Männern, die alle auf der Suche nach einer Geschichte sind. Auf der Vorderbühne - schick eingefasst als New Yorker Ziegelfassade - probieren sie sich an Sätzen und Gesten aus, bis E.M. Forster höchstpersönlich auftritt, den Michael Goldberg als weisen, herzigen Ratgeber anlegt. Er schubst sie in die Geschichte hinein, die fortan vom Kollektiv erfunden und vom Rand aus kommentiert wird. Gespielt wird sie in der Bühnenmitte, in die die Drehbühne eine naturalistische Kulisse nach der anderen hinein fährt - das trendig-reduzierte Wohnzimmer, den Salon mit Kamin, ein meterhohes Broadway-Plakat, oder eine Notaufnahme (Bühnenbild: Philipp Stölzl, Mitarbeit Franziska Harm).

Als erstes springt Moritz von Treuenfels in die Bühnenmitte. Er ist fortan Toby Darling, der einen autobiografisch völlig verdrehten Roman geschrieben hat, diesen zum Broadway-Erfolg führt und dabei links und rechts des Weges alles zertrampelt. Raumgreifend, selbstverliebt, sarkastisch zeichnet Treuenfels ihn, den natürlichen Mittelpunkt jeder Party. Doch so zu sein, sich im Prinzip zu verstellen, kostet Toby Kraft - diese Nuance mischt Treuenfels von Anfang an seiner Figur bei. Dadurch verleiht er ihr eine Tiefe, die notwendig ist, um sie auch sechs Stunden lang interessant zu halten. Gleiches gelingt Thiemo Strutzenberger als Eric Glass. Eric ist ein durch und durch guter und sanftmütiger Mensch und läuft damit Gefahr, auch durch und durch langweilig zu sein. Doch bei Strutzenberger ist dieses Gut-Sein eine Art Gefängnis, aus der sein Eric nur allzu gerne herauskommen würde.

Eric ist das Zentrum, um das alles kreist, letztlich auch Toby. Ihre Beziehung flankieren ihre schwulen Freunde, jeder für sich ein Typ, feinsinnig, hemdsärmelig oder smart (Patrick Bimazubute, Simon Zagermann, Florian Jahr und Nicola Mastroberardino). Bald tritt auch der junge, hübsche Adam in ihr Leben und leitet den Bruch ein, der nicht mehr zu kitten ist. Vincent zur Linden ist dieser Adam, er ist neu im Ensemble des Residenztheaters und in seiner Wandlungsfähigkeit eine Entdeckung. Sein Adam, der in Tobys Stück die Hauptrolle übernimmt, ist zunächst scheu und kokett, später der egozentrische Schauspielstar ohne Ehrlichkeit. Linden ist auch als Stricher Leo zu sehen, ein verschreckter Kerl mit zerfetzter Seele, dem er die gleiche Authentizität verleiht, wie seinem Adam.

In dieser Authentizität liegt die Stärke des Abends. Jede Figur strahlt etwas Wahrhaftes aus. Seien es die Protagonisten oder der harte Geschäftsmann Henry (Oliver Stokowski), die vielen Nebenfiguren von Vincent Glander und Noah Saavedra oder auch die einzige Frauenrolle, die die großartige Nicole Heesters mit zupackender Energie kurz vor Schluss auf die Bühne zaubert. Ihnen allen sieht man mit Gebanntheit zu, gefesselt wie beim Serienmarathon, lässt sich von ihren Schicksalen berühren, will wissen wie es weitergeht, ganze sechs Stunden lang.

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