Von Johan Schloemann zu erzählen, also vom Autor dieses Artikels, soll gar nicht die Absicht sein. Aber eine Befangenheitserklärung ist in diesem Fall doch unvermeidlich: Es geht um die Midlife-Crisis, und ich stecke genau mittendrin.
Bei 46 Jahren liegt der durchschnittliche Tiefpunkt der Lebenszufriedenheit. Das hat eine internationale Studie der Ökonomen David Blanchflower und Andrew Oswald im Jahr 2008 ermittelt, die in 72 Ländern durchgeführt wurde. Andere Erhebungen kommen immer wieder zu ähnlichen Ergebnissen. Die Zufriedenheitskurve des erwachsenen Lebens hat demnach eine U-Form: Sie fängt oben an in jungen Jahren, sinkt dann ab und schwingt sich im Alter wieder empor. Und ganz, ganz unten in der Senke dieses U, da sind die 46-Jährigen. Da bin ja auch ich.
Und jetzt gehen wir erst einmal ganz objektiv ans Thema heran. Kieran Setiya, ein Philosoph, der am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA lehrt, bietet frische Gedanken an, uns die Midlife-Crisis zu erleichtern. Allerdings hat es die Midlife-Crisis selber nicht leicht. Sie ist als Begriff, den ein Psychoanalytiker 1965 in einem Fachaufsatz zur Welt brachte, inzwischen 52 Jahre alt und damit eigentlich aus dem Gröbsten raus. Aber sie ist fast immer umgeben von einer Wolke von Witzen, begrenztem Mitleid und ironischer Distanzierung, wenn man von ihr spricht.
Ist die Midlife-Crisis nicht ohnehin nur den sozial Privilegierten vorbehalten - ein #firstworldproblem?
Die Midlife-Crisis steht im Verdacht, ein Produkt der Fiktionalität zu sein, weil unzählige Filme, Serien, Romane und Sitcoms sie zu einem Mittelklasse-Vorort-Problem geformt haben, ja weil überhaupt Erzählungen, beginnend mit dem bürgerlichen Roman, das moderne Leben und seine Schwierigkeiten, so scheint es, erst erfunden und geschaffen haben.
Man denke nur beispielsweise an "Stoner", den unerfüllten Akademiker, der sich auf erschütternde Weise in seine Mediokrität fügt, aus dem Welterfolgsroman von John Williams, der erstmals ebenfalls im Jahr 1965 erschien, also gleichzeitig mit der Erfindung des Begriffs der Midlife-Crisis. Und ist diese nicht ohnehin nur den sozial Privilegierten vorbehalten - ein #firstworldproblem - sowie allermeist einfach nur ein Ausdruck von männlicher Larmoyanz?
Nein, sagt der Moralphilosoph Kieran Setiya in seinem Buch "Midlife", das gerade im Verlag der Princeton University Press erschienen ist. Zwar muss der sehr ungeschützte Begriff oft bloß für dieses oder jenes herhalten, was irgendwie unerfreulich ist und eben häufiger passiert, wenn man im mittleren Alter ist: Der Körper ist nicht mehr tipptopp, Ehen und Beziehungen wackeln, unsere kleinen Engel haben Trotzanfälle in der Supermarktschlange oder leben schon ihr eigenes Leben, es gibt Stress in der Arbeit. Die Midlife-Crisis aber kann tatsächlich eine existenzielle Herausforderung sein, ohne dass man gleich bei Pathologien wie Burn-out oder Depression landet; und es gibt sie, ganz real, darauf beharrt Kieran Setiya, unabhängig vom Geschlecht oder der sozialen Klasse, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung.
Wo wir also im Klischee an flüchtige, miese Affären denken, an verzweifelte Lockerheit, an den "Fikkefuchs" im Kino, an ein zu langes Festhalten am Tragen von Lederjacken, an Marathontraining oder an Begeisterung für neue Sportwagen, da kann man mit Rainer Maria Rilkes "Schlussstück" aus dem "Buch der Bilder" kontern, dass es sich eigentlich um etwas viel Größeres dreht: "Der Tod ist groß. / Wir sind die Seinen / lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen, / wagt er zu weinen / mitten in uns." Was Rilke da aufgreift, nämlich die Aussage eines frühmittelalterlichen Chorals, den Martin Luther so übersetzte: "Mitten wir im Leben sind / mit dem Tod umfangen" - das kennen wir als das bewusste, aber oft auch unbenannte Gefühl, dass uns im mittleren Leben Wiederholung und Endlichkeit vor Augen stehen wie nie zuvor.
So war es auch bei Kieran Setiya selbst, auf dem Weg zu seinem "Midlife"-Buch, das sich erfreulicherweise völlig unlarmoyant liest. Er hatte und hat alles, was man sich so wünscht, einen guten Uni-Job als Philosophieprofessor, Erfolg, Anerkennung, Familie, und trotzdem kam sie, diese "verwirrende Mischung aus Nostalgie, Bedauern, Klaustrophobie, Leere und Angst". Die scheinbar kleine Luxuskrise, mit der wir (ich ja auch, wie gesehen) gerne kokettieren, berührt in Wahrheit Fragen, die das ganze menschliche Leben stellt: "die fortschreitende Verminderung von Möglichkeiten, die Vollendung oder das Scheitern von Projekten, die Akkumulation der Biografie". Waren wir nicht gerade erst so einigermaßen erwachsen geworden? Hätten wir andere Wege einschlagen sollen? Und wird das Problem nicht dadurch schwerer handhabbar, dass wir keinen eindeutigen, totalen Energie- und Sinnzusammenbruch erleben, keine nihilistische Katastrophe, sondern nur zu allen gehören, "die mit der Unumkehrbarkeit der Zeit hadern"?
Was also tun? Kieran Setiya gehört zu den akademischen Philosophen, die sich zunehmend weniger scheuen, unter heutigen Bedingungen - einschließlich Twitter-Account - die alte Verbindung von Moralphilosophie und Lebenshilfe wiederzubeleben, die vor der Verwissenschaftlichung des Fachs üblicher war, bei allem Willen zur Abstraktion, der in der Philosophie genau so alt ist. Zwar wird die Frage nach dem guten Leben, und auch die nach der Sterblichkeit, seit Jahrtausenden gestellt und mal kühl, mal in hochfliegenden Entwürfen und Lehren beantwortet. Aber die spezifischen Probleme des mittleren Alters haben sich die Denker kaum einmal vorgenommen, wohl allein schon deshalb, weil das Alter einst bei geringerer Lebenserwartung viel früher anfing. Setiya nun rät in "Midlife" keineswegs zu den klassischen desperaten Ausbruchsversuchen - nicht, weil sie nicht sein Fach sind, sondern weil er sie meist für keine Lösung hält. Stattdessen lautet die Empfehlung: Nachdenken hilft. Wirklich!
Im Zuge seiner "kognitiven Therapie" nimmt sich der Midlife-Philosoph einige Denkfehler vor. Einer davon ist die Fixierung auf Projekte und Ergebnisse. Unsere Wirtschaftsweise, unsere Kultur ist auf das Abhaken von Zielen ausgerichtet, auf Output. Das erzeugt aber im mittleren Alter leider das Gefühl von Austauschbarkeit und sinnloser Repetition von Aktivitäten und Vorhaben, selbst wenn sie im Einzelnen sogar ganz großartig sein mögen.
Das kann und will man nicht als Ganzes abschaffen; aber ausgehend von Arthur Schopenhauers pessimistischer Erkenntnis, dass wir entweder unter der Noch-nicht-Erfüllung oder unter der Erfüllung von Begehren leiden, ist Setiyas handfesterer Tipp für die Midlife-Crisis : Wer das verstanden hat, soll einfach zwischendurch mehr Dinge tun, die kein Ergebnis haben, die sich nicht abschließen, nicht vollenden lassen. Denn: "Wir sind nicht, was wir uns vornehmen zu erledigen." Also wäre mehr Platz zu schaffen für das, was für Menschen in den Vierzigern lange nicht mehr so einfach ist, wie es klingt: einen Spaziergang ohne Ziel machen. Musik hören ohne Absichten und begleitende Tätigkeiten. Nicht durchgeplante Zeit mit Freunden und Familie verbringen. Online-Shopping zum Zeitvertreib: eher nicht so. "Sie haben mehr Zeit, als sie denken."
Solche privatistisch anmutenden Denk-Lösungen, wie sie ähnlich auch die buddhistische Meditation bietet, dürften allerdings allen, die an kein richtiges Leben im falschen glauben, suspekt erscheinen. Was ist mit den sozialen Zusammenhängen, der Klassenbedingtheit von Lebensformen, was ist mit der "vita activa", was ist mit einer politisch motivierten Anthropologie, wie sie der in Princeton lehrende Franzose Didier Fassin in seinem neuen Buch "Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung" (Suhrkamp, 2017) formuliert, gegen die Ungerechtigkeit der kapitalistischen Lebensbedingungen und der europäischen Flüchtlingspolitik? Ähnlich hatte schon Theodor W. Adorno die Lebensphilosophie des 20. Jahrhunderts angegriffen.
Auch was sich nach Gefangensein anfühlt, ist ein Ergebnis der menschlichen Freiheit
Allerdings macht gerade die temporäre Ausblendung des Gesellschaftlichen, die Konzentration auf ein (einigermaßen) konkretes Lebensproblem die Philosophie, wie sie Kieran Setiya betreibt, in einem einfacheren Sinne wirkungsvoll und hilfreich. Und wer auf solche Weise aus dem Tiefpunkt der Lebensmitte herauskommt, kann doch vielleicht auch gesellschaftlich wieder segensreicher sein, oder? Das sieht man auch an unserem anderen Denkfehler der mittleren Jahre, den "Midlife" scharf auseinandernimmt: Das ist die Sehnsucht nach der Jugend, in der einem angeblich noch die Welt offenstand, in der man unzählige Optionen hatte. Was wäre, wenn ich einen anderen Beruf ergriffen, einen anderen Partner getroffen hätte, woandershin gezogen wäre ...?
Doch sich nach einem Leben zu sehnen, das keinen Ausschluss von Möglichkeiten kennt, ist eigentlich "eine drastische Verengung von Horizonten". Damit meint der Philosoph dies: Der Protest gegen die Festlegung auf einen Lebenspfad ist, wenn man ihn zu Ende denkt, eigentlich auch ein Protest gegen die Vielfalt des Lebens selbst, ohne die aber alles unendlich trüber wäre. Anders gesagt: Auch was sich nach Gefangensein anfühlt, ist ein Ergebnis der menschlichen Freiheit.
Hinzu kommt bei wichtigen Lebensentscheidungen noch ein Weiteres: Wir wissen gar nicht vorher, ob und wie eingreifend sie uns auch in unserer Identität, unserem Selbstverständnis verändern werden, weswegen klare, rationale Entscheidungen darüber ohnehin kaum möglich sind (und die Entscheidungstheorie darüber auch schweigt) - darauf hat die Philosophin L. A. Paul in ihrem Buch "Transformative Experience" (Oxford, 2014) hingewiesen.
Kieran Setiya gibt in "Midlife" zwar zu: "Nicht jede Wunde kann heilen." Aber dann erinnert er, wofür man unendlich dankbar sein kann, noch an einem Mann namens Reginald "Reggie" Perrin.
Das ist der Held einer legendären britischen Comedy-Serie der Siebzigerjahre. Reggie Perrin flieht in der Midlife-Crisis vor seinem monotonen, uninspirierenden Job bei der Firma Sunshine Desserts. Er fingiert seinen eigenen Tod, indem er Kleider und Koffer an einem Strand liegenlässt, kommt dann nach diversen Abenteuern und Pechsträhnen zurück, gibt sich als "Martin Wellbourne" aus, heiratet noch einmal Reggies "Witwe" (also seine Frau) und wird dann auch noch als Ersatz für den fehlenden Mitarbeiter, also sich selbst, von derselben Firma wieder angeheuert.
Das wäre ungefähr die Lösung. Ich bin 46 und werde noch ein paar Jahre lang an Reggie Perrin denken. Und mir diese Auslegung des Philosophen an die Wohnungstür hängen: "Etwas verpasst zu haben, ist die Konsequenz aus der Pluralität des Wertvollen." Dann wird das schon. Dann kommen die besten Jahre.