"Me Too" in der Türkei:"Wie viele Frauen sind wir?"

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Bat erst um Verzeihung, entschied sich dann anders und drohte mit dem Gericht: Der Schriftsteller Hasan Ali Toptaş. (Foto: Imago)

Wenn ein Tweet einen Sturm ausgelöst: Die "Me Too"-Debatte hat die Türkei erreicht. In den sozialen Medien kursieren Vorwürfe gegen prominente Autoren, Architekten, Karikaturisten.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Jetzt hat auch die Türkei ihren "Me Too"-Skandal. Ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller ist vom Sockel gestürzt worden, ein anderer, weniger bekannter Autor hat sich wegen der Vorwürfe sexueller Belästigung erhängt, und im Land kursiert eine Liste: Männer aus der Kultur, darunter Zeichner und ein Star-Architekt sehen sich durch Veröffentlichungen in den sozialen Medien dem Vorwurf ausgesetzt, Frauen sexuell bedrängt zu haben. Besonderes Gewicht der Anschuldigungen gegen die Vertreter der Kulturavantgarde gewinnen die "Me Too"-Vorwürfe, weil Gewalt gegen Frauen in der Türkei in der Form von Femiziden und "Ehrenmorden" Alltag sind.

Begonnen hatte der Skandal, als eine Frau den international renommierten Schriftsteller Hasan Ali Toptaş über den anonymen Twitteraccount "@LeylaSalinger" beschuldigt hatte, er habe sie vor Jahren sexuell bedrängt: "Wie viele Frauen sind wir, die wir darauf warten, dass dieser Mann entlarvt wird?" hieß es über Toptaş, der mit Romanen wie "Die Schattenlosen" bekannt und von Literaturkritikern als "ein Meilenstein der türkischen Literatur der letzten 25 Jahre" gerühmt wurde. "Ich und viele Freundinnen haben in der Zeit an der Uni unangenehme Erfahrungen mit ihm machen müssen. Hätte ich damals mein heutiges Selbstbewusstsein und meinen heutigen Mut gehabt, hätte ich ihn schon seinerzeit bloßgestellt."

Eine Autorin musste sich angeblich vor Toptaş im Badezimmer verstecken

Nach diesem Tweet meldeten sich zahlreiche Frauen, die von ähnlichen Erlebnissen berichteten. Toptaş bat um Verzeihung: "Bis einer versteht, was männliche Täterschaft ist und welche Wunden diese bei den Frauen reißt, begeht man Fehler, ohne diese Verletzungen zu erahnen." Er entschuldige sich "aufrichtig bei all denen, die ich unbewusst, ohne es zu merken, durch mein Verhalten betrübt oder verletzt habe."

Genützt hat es ihm nicht: Frauen nannten seine Entschuldigung halbherzig, der Everest-Verlag gab bekannt, seinen Autor nicht länger zu verlegen. Und die Schriftstellerin Pelin Buzluk meldete sich zu Wort: Sie sei von Toptaş so brutal bedrängt worden, dass sie sich im Bad habe einschließen müssen: "Das war sexuelle Gewalt, körperlicher Zwang zum Sexualakt."

Buzluk beschrieb das Selbstverständnis vieler Frauen in dem konservativen Land: "In der Türkei gibt es so etwas wie ein anerzogenes Frau-Sein. Wir geben uns selbst die Schuld, wenn so etwas geschieht." Die Übergriffigkeit von Toptaş sei in der Literaturszene bekannt gewesen, der Romancier habe sich aufgrund seines Renommees unangreifbar gefühlt. Die Autorin fordert: "Wir müssen diese durch Renomee gewonnene Position durch Bloßstellung dem Erdboden gleichmachen."

In den sozialen Medien kursieren Vorwürfe gegen weitere Männer

Solche Bloßstellungen könnten noch mehr Männer treffen. In den sozialen Medien kursieren Vorwürfe gegen den Kurzgeschichten-Autor Bora Abdo, den Kult-Karikaturisten Metin Üstundağ, den Übersetzer Ümid Gurbanov, den Star-Architekten und Stadtplaner Korhan Gümüş und den Dichter Hüseyin Kıran.

Vor allem diskutiert die Türkei über den Suizid des weniger bekannten Schriftstellers und Kleinverlegers Ibrahim Çolak. Er hatte sich nach den Vorwürfen das Leben genommen. Der 51-Jährige schrieb noch auf Twitter: "Ich kann meiner Frau und meinen Kindern nicht mehr ins Gesicht schauen. Ich habe es nicht geschafft, ein guter Mensch zu sein".

Nun beginnt eine Debatte darüber, was im Zusammenhang mit "Me Too" erlaubt sein soll. Manche sprechen von "Lynch-Stimmung" und "Hexenjagd". Sie fürchten um die Publikations- und Meinungsfreiheit.

"Wir sollten die Perspektive der Autorinnen einnehmen"

Ein Politiker der Regierungspartei AKP warf die Frage auf, ob die Twitterer nach Çolaks Suizid strafrechtlich belangt werden müssten. Andere, vor allem Frauen, verweisen auf die Abfolge von Tat und Konsequenz: "Wir sollten die Perspektive der Autorinnen einnehmen, die in diesen Verlagen arbeiten", schreibt die Autorin Gökçen Bayram. "Welche Frau kann dort arbeiten, ohne solche Männer zu fürchten?"

Der Twitter-Account @LeylaSalinger, mit dessen Tweets alles in Gang gekommen war, wurde nach dem Bekanntwerden von Çolaks Suizid gelöscht. Aber eine andere Frau twitterte anonym: "Mein Belästiger hat sich das Leben genommen. Bin ich darüber traurig? Nein."

Das Problem bei alldem: Toptaş zog seine Entschuldigung, die als Geständnis gewertet worden war, nun zurück: Er habe nur ganz allgemein über das Verhältnis von Mann und Frau geredet. Vor allem wies er die Vorwürfe von Pelin Buzluk zurück, drohte ihr mit dem Gericht: Sie habe ihn zwar besucht, hätte sich aber in seinem Badezimmer kaum einschließen können: In den Bädern seines Hauses steckten keine Schlüssel in den Schlössern.

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