Melissa Broders "Muttermilch":Rachel isst auf

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Sinnlichkeitsmetapher aus dem 21. Jahrhundert: Frozen Yoghurt mit Regenbogenstreuseln. (Foto: Pitopia / Barbara Neveu/Mauritius Images)

Melissa Broder erzählt in "Muttermilch" vom existenziellen Hunger und vom Glauben, Lieben und Genießen unter Frauen. Werden Männer da noch gebraucht?

Von Christiane Lutz

Zwei Packungen Süßstoff, eine kalorienreduzierte Schoko-Muffin-Glasur, eingerührt in einen zweihundert Gramm Becher Joghurt mit Null Prozent Fett. Der perfekte Doppelschlag an Cremigkeit und Süße, die Kalorien überschaubar: Rachels Mittagessen ist, wie der Rest ihrer Mahlzeiten, genau so einzuhalten, Tag für Tag. "War es wahre Freiheit? Unwahrscheinlich. Aber dank meiner Rituale blieb ich dünn, und wenn Glück nur eines bedeutet, nämlich Dünnsein, dann könnte man sagen, ich war in gewisser Weise glücklich."

Diese Frau ist Mitte zwanzig und hat natürlich ein Problem, das diagnostiziert die Leserin gleich auf den ersten Seiten von Melissa Broders Roman "Muttermilch". Allerdings ist das keine vorwurfsvolle Geschichte über Frauen, die an ungesunden Körperbildern leiden. Klar, Rachel arbeitet auch noch in einer sehr oberflächlichen Talentagentur in Hollywood, wo Dünnsein ein Standard-Bewertungskriterium für Menschen ist. "Muttermilch" ist aber kein Body-Positivity Roman. Er erzählt vom Gefühl, beim Zählen von Kalorien die Kontrolle zu behalten und dem universellen Hunger nach Liebe, der sich darin ausdrückt, der Sehnsucht nach familiärer Geborgenheit.

Die amerikanische Schriftstellerin und Kolumnistin Melissa Broder wählt dafür das Bild der nährenden Mutter, die sich kümmert, Trost und Wärme spendet, an deren Güte man sich besaufen kann. Eine jüdische Mutter zudem, klischeehaft berühmt und berüchtigt dafür, besonders sorgenvoll um ihre Kinder zu glucken. Rachels Mutter ist zwar auch übermäßig besorgt, eine, die permanent von der Ostküste aus in Rachels Leben in Los Angeles hinein simst und anruft. Allerdings ist sie eine kühle Asketin, die ihrer Tochter schon früh Enthaltsamkeit bei Hüttenkäse mit Karottenstiften predigt. Liebe gibt es gegen Kalorienersparnis. Erst Rachels Therapeutin (eine Frau, die "aß, wenn sie hungrig war, und aufhörte, wenn sie satt war") bringt sie dazu, den Kontakt zur Mutter abzubrechen. Dass Rachel auf allen möglichen Ebenen Hunger hat, ist also nachvollziehbar. Auf amerikanisch heißt der Roman "Milk fed", was man auch mit "gestillt" übersetzen könnte, die "Muttermilch" als ultimativer Lebenssaft.

Rachel lernt von Miriam das Essen, Miriam von Rachel den Cunnilingus

Da taucht Miriam hinter der Theke von "Yo!Good" auf, einem Frozen-Yogurt-Laden. "In erster Linie war sie fett: unbestreitbar fett, unwiderlegbar fett. Sie war nicht dick, kurvig oder mollig. Sie ging über ,drall' hinaus, stellte ,plump' in den Schatten. Sie war fett, und sie übertraf meine schlimmsten Befürchtungen für meinen eigenen Körper." Das Seltsame: Miriam scheint das egal zu sein, sie versteckt sich nicht, sondern präsentiert "jede Bauchspeckrolle", "jede Hüftwulst und Rückenfalte ihres Körpers."

Zwischen den beiden Frauen entbrennt ein stiller Kampf. Genuss gegen Selbstgeißelung. Miriam füllt den Joghurtbecher bis weit über den Rand, Rachel hyperventiliert innerlich. Irgendwann gibt sie nach: "Als sie mir den Yogurt reichte, war jeder Zentimeter dieses gigantischen Bergs mit Regenbogenstreuseln bedeckt. Es war umwerfend schön, nahtlos, als wäre der Yogurt selbst ein Regenbogen." Rachel isst auf. Und wenige Tage später teilen sie sich beim Chinesen eine Pu-Pu-Plate für vier Personen.

Die beiden sind in fast jeder Hinsicht Gegensätze: dick und dünn, blond und brünett. Rachel lernt von Miriam das Essen, Miriam von Rachel den Cunnilingus. Rachel ist eine liberale Jüdin, Miriam streng religiös aufgewachsen. Wo der einen der familiäre Halt fehlt, hat die andere zu viel davon. Zwei sich ergänzende Hälften, scheint es. Rachel verliebt sich. Und bald schon labt sie sich nicht mehr nur an der Pu-Pu-Platte, sondern auch an Miriams riesigen Brüsten.

"Die Burritos sahen immer köstlich aus, wie fest in Decken gewickelte warme Babys."

Jetzt ist Miriam die liebende Mutter, und Rachel stopft sich mit ihr voll, spirituell, sexuell und kulinarisch. Sie nennt Miriam ihren "Golem", ein Wesen der jüdischen Folklore, oft eine Metapher für das, was sein Schöpfer sucht. Als Rachel den Sabbath mit Miriams strenggläubiger jüdischer Familie verbringt, wird sie dort aufgenommen wie ein verloren gegangenes Kind. Rachel fühlt sich belebt und aufgehoben, auch wenn die orthodoxe Glaubensauslegung dieser Menschen mit ihrem eigenen Jüdischsein nicht viel zu tun hat. Aber sie versucht, ihre spirituelle Leere mit dem Wertesystem dieser freundlichen Familie zu füllen.

Lustvoll und seitenweise schildert Melissa Broder Rachels erwachte Freude am Essen: "Die Burritos sahen immer köstlich aus, wie fest in Decken gewickelte warme Babys. Ich wollte einen Burrito nehmen und an meine Wange halten oder ihn mir über die Schulter legen und beruhigen." Fürsorge, sexuelles Begehren und Hunger sind für sie dasselbe, beides Sehnsüchte, die es zu stillen gilt. Über Miriam schreibt sie: "Es waren drei Fettrollen, und ich bedeckte sie ganz mit Küssen, stellte mir die Rollen als dicke Lippen vor, meine Oberlippe sank zwischen sie, die Zunge gerade so weit herausgestreckt, dass ich schmecken konnte, was dort war. Dann erschien mir der Zwischenraum wie Muschis, und ich dachte: Unglaublich, sie hat so viele Muschis, so viele Orte, die ich erforschen kann."

Ähnlich fantasiert Rachel zuvor auch von ihrer Arbeitskollegin Ana, einer mütterlichen Freundin. "Ich will, dass du mich leckst", träumt sie, "die alles verzehrende Mutter". Die Tochter will mit der Mutterfigur schlafen, als Akt größtmöglicher Nähe und Befriedigung - und eine Vaterfigur ist nicht im Bild. Ein ödipaler Skandal eigentlich, nur macht Melissa Broder den alten Komplex zur exklusiven Angelegenheit zwischen Mutter und Tochter. Männer sind damit endgültig aus der Gleichung sowie der Ernährungs- und Bedürfnisgemeinschaft ausgeschlossen. In diesem Roman spielen sie ohnehin eine untergeordnete Rolle. Einmal schläft Rachel mit einem Schauspieler und erkennt ihn zwar als guten Techniker an, dem allerdings jeder Instinkt für Frauen fehle.

Melissa Broder: Muttermilch. Roman. Aus dem Englischen von Karen Gerwig. Claassen, Berlin 2021. 336 Seiten, 24 Euro. (Foto: Ullstein Buchverlage)

Melissa Broder wurde einst mit ihrem lakonischen Twitter-Account So Sad Today bekannt, aus dem ein gleichnamiger Essayband entstand, ihr erster Roman "Fische" erschien 2018. Auch da sucht eine Figur, Lucy, nach einer ungeplanten Trennung nach jemandem, nach etwas, mit dem sie die innere Leere füllen kann und verliebt sich in einen vielleicht nicht ganz realen Meermann. Wie Rachel ist sie Meisterin der Projektion. In ihrer Schrägheit und den kruden Selbstheilungsansätzen erinnert Broders Schreibweise außerdem an die von Ottessa Moshfegh, in deren Buch "Mein Jahr der Ruhe und Entspannung" eine Frau monatelang schläft, als ultimative Kapitulation vor einer überfordernden Welt.

Wenn es nach Melissa Broder geht, müssen Projektionen und Phantasmen jedoch nichts Schlechtes sein. Auch wenn die kurze, mit Karamelltopping garnierte Romanze enden muss, weil Miriam nicht mit einer Frau zusammen sein darf, ist die Liebe nicht nur Oberfläche. Sie hat selbst in ihrer Verklärung und in all ihrer Unmöglichkeit eine Berechtigung, mehr noch, eine direkte Wirkung. Sie päppelt Rachel buchstäblich auf, nährt sie. Am Ende finden wir sie, die Haare kurzgeschoren, ein paar Kilos mehr am Leib, durch die Begegnung mit Miriam verändert wieder. Es ist kein tragisches Ende. Die Mutter lässt das Kind zurück, das Kind emanzipiert sich von der Mutter, gesättigt. Sie brauchen einander nicht mehr.

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