"London NW" von Zadie Smith:Hier ist alles ein Kampf

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Zadie Smith schreibt in ihrem neuen Roman "London NW" über die Gegend, in der sie selbst aufwuchs. (Foto: Dominique Nabokov)

In "London NW", ihrem ersten Roman seit sieben Jahren, schildert Zadie Smith wieder das multiethnische Leben der Großstadt. Aber ihr Ton ist härter, ja herzloser geworden.

Von Johan Schloemann

Kilburn High Road. Das ist eine dieser nicht so feinen Durchgangsstraßen, in denen London am meisten London ist. Zu ebener Erde die bunte Kette von schnell wechselnden Läden: Maniküre und künstliche Wimpern, frittierte Hähnchenteile, Kaffee und Sandwiches, Zeitschriften, Klamotten, Mobiltelefone, Drogeriewaren. A nation of shopkeepers. Und eine Nation der Einwanderer. Darüber dann, auf der Höhe des Oberdecks der Doppeldeckerbusse, zwei, drei Stockwerke, die nicht zu den attraktivsten Immobilien der Stadt zählen, weil der ewige Verkehr an ihnen vorbeidonnert. Obendrauf ein Wald von Antennen, Funkmasten und alten Schornsteinen. Und drumherum ein Nebeneinander von trostlosen Wohnblöcken und fiesen Ecken einerseits und den gleichförmigen Nebenstraßen mit den viktorianischen Reihenhäusern andererseits, die auch hier immer teurer werden.

Kaum länger, so fühlt es sich an, als ein Doppeldeckerbus braucht, die Kilburn High Road zu durchmessen, dauert es, den neuen Roman von Zadie Smith durchzulesen. Das Buch, das in dieser Gegend spielt, in der die Autorin aufgewachsen ist, und das nach dem postalischen Kürzel des Nordwestens der Stadt "NW" benannt ist, dieses Buch ist sehr kurzweilig. Das liegt nicht bloß an der Haltlosigkeit seines Personals und an dessen immer wieder wechselnder Scharfstellung, die dem Tempo und der Vielstimmigkeit der Großstadt folgt. Es liegt auch am narrativen Stil im Einzelnen: weniger sanft fortlaufende Erzählprosa wie in Smiths früheren Büchern, schnelle Assoziationen und Schnitte, ein Stakkato der Eindrücke, der kurzen Sätze, Dialoge und Einzelszenen, eine wilde Mischung aus Literatur- und Straßensprache. Daraus wird beim Lesen aber kein Holpern und Stolpern, sondern ein Flow.

Milde, einfühlsame, humor- und liebevolle Töne sind jetzt allerdings eher rar bei Zadie Smith, die seit ihrem Welterfolg "White Teeth" ("Zähne zeigen") im Jahr 2000 das Leben in der multiethnischen Gegenwart beschreibt. Nein, hier ist alles ein Kampf um wirtschaftlichen Aufstieg und Lebensglück, was, wie sich bald erweist, nur scheinbar dasselbe ist. Die Klassengegensätze, die ehelichen Frustrationen und die sonstigen Spannungen spielen sich längst nicht mehr nur zwischen den ethnischen Gruppen ab - den Jamaikanern, den Nigerianern, den Irischstämmigen, den weißen Engländern - sondern innerhalb derselben Herkünfte. Weil die gnadenlose Dynamik der Ökonomie, der Lebensentscheidungen und Netzwerke den einen nach oben, den anderen nach unten bringt, wird die Ressource der Solidarität auch in den kulturellen Minderheiten knapp.

Angestrengte Selbstdarstellung

Zwar spielt das Herkunftsmilieu in den meisten Fällen immer noch die entscheidende Rolle, wie folgender Dialog zeigt: ",Wie kommt es eigentlich, dass alle von eurer Schule cracksüchtige Kriminelle geworden sind?' - ,Und wie kommt's, dass alle von deiner im Tory-Kabinett sitzen?'" - Aber da ist auch der Fall von Natalie, die sich in der Kindheit Keisha nannte - Tochter einer Jamaikanerin wie Zadie Smith -, die es aus eigenem Antrieb zur Universität und zu einem Job als Anwältin schafft. Natalie heiratet den reichen Francesco de Angelis, der ohne übermäßigen Durchblick als Investmentbanker arbeitet, sie zieht in eine bessere Gegend, und bald schon hat sie ein brasilianisches Kindermädchen, das überrascht ist, dass ihre Arbeitgeberin schwärzere Haut hat als sie selber.

Natalie strengt sich ungemein an mit ihrer Selbstdarstellung: "Tochter-Rolle. Schwester-Rolle. Mutter-Rolle. Ehefrau-Rolle. Anwältinnen-Rolle. Reichen-Rolle. Armen-Rolle. Briten-Rolle. Jamaika-Rolle. Jede Rolle verlangte eine andere Kostümierung." Doch Natalie, die es doch "geschafft" hat, wird nicht glücklich. In einem Ausbruchsversuch verabredet sie sich auf Sex-Seiten im Internet zu privaten Swingertreffen. Bevor klar ist, wohin das führt, erfährt ihr Mann davon und wird sehr zornig. Natalies Abdriften wird dann in einer ziellosen nächtlichen Wanderung vorgeführt, zusammen mit einem drogenabhängigen früheren Schulfreund und Jugendschwarm, der in der Gosse gelandet ist.

Atemloses Hin und Her

Die zweite weibliche Hauptperson ist Natalies alte Freundin Leah. Zu den virtuosesten, musikalischsten Partien dieses Romans gehört die Schilderung der parallelen (Auseinander-)Entwicklung der aufwachsenden Teenagerfreundinnen. In einem atemlosen Hin und Her malt Zadie Smith wunderbare kleine Charakterbilder und fängt Zeitstimmungen ein. Leah, die weiß ist, stammt von Einwanderern aus Irland ab. Sie ist im Viertel geblieben und hat einen bescheidenen Job in der Kommunalverwaltung. Das ist im Vergleich zu den herumstreunenden Drogendealern und Tagelöhnern, die auf dieselbe Schule gegangen sind wie Natalie und Leah, nicht nichts.

Aber auch Leah ist frustriert, sie hat mehrere Abtreibungen hinter sich, weil sie mit ihrem französischen Mann und überhaupt irgendwie keine Kinder haben will. Sie hängt an ihrer Verpflichtungs- und Ehrgeizlosigkeit und leidet doch am Vergleich mit Natalies wohlhabender Familie. Darüber, wie Leah nach oben auf die "besseren" Kreise und zur Seite auf ihren Mann Michel blickt, heißt es einmal, im Stillen zum Mann gesprochen: "Insgeheim denkt sie: Du willst so reich sein wie die, aber ihre Moral ist dir zu viel Aufwand, während ich mich eher für ihre Moral interessiere als für ihr Geld, und dieser Gedanke, dieser Gegensatz, gibt ihr ein gutes Gefühl." Es ist kein nachhaltiges Gefühl.

Als der "NW"-Roman im letzten Jahr im Original erschien, wurde er in der englischsprachigen Presse groß gefeiert. Das mag auch daran gelegen haben, dass es der erste Roman von Zadie Smith seit sieben Jahren war, seit dem in Amerika spielenden Buch "On Beauty" ("Von der Schönheit", deutsch 2006 erschienen). Aber ein ganz großes Meisterwerk ist "London NW" nicht. Gewiss muss man die Autorin dafür bewundern, wie sie den Rhythmus, die Polyphonie, die Zumutungen und kleinen Freuden des Lebens rund um die Kilburn High Road in souveräner, illusionsloser und niemals behäbiger Prosa abbildet; allein deshalb schon lohnt sich die Lektüre.

Doch bei aller Uptempo-Milieu-Authentizität wirkt das Ganze doch ein wenig steif und konstruiert, um nicht zu sagen: herzlos. Fast hat man den Eindruck, Zadie Smith wolle nach ihren amerikanischen Gastprofessuren und dem Verfassen literaturgeschichtlicher Essays unbedingt demonstrieren, dass sie die ganz harte multikulturelle Großstadt-Tour immer noch drauf hat. Natürlich wird jeder London-Roman seit Charles Dickens immer auch von den irren Gegensätzen dieser Stadt handeln, von Wohlstand, Chancenlosigkeit und der Mobilität dazwischen.

Aber hier drohen die Lebensgeschichten und Charaktere - ähnlich wie in John Lanchesters großem London-Roman "Kapital" (2012) - zur bloßen Illustration sozioökonomischer Fakten zu werden. Die Vielfalt der Sichtweisen ist groß, doch am Ende ist alles nur noch Perspektivlosigkeit. Wenn die rasante Lektüre vorbei ist, ist man sehr unsicher, ob das ein Problem des Lebens in der Stadt oder ein Problem der Erzählung ist.

Zadie Smith: London NW. Roman. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 429 Seiten, 22,99 Euro, E-Book 19,99 Euro.

© SZ vom 09.01.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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