Little Britain:Besondere Talente

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Ein nächtlicher Spaziergang an der Themse kann unterhaltsamer sein, als der Austausch von Höflichkeiten auf einer Stehparty. (Foto: dpa)

Manche Menschen sind gut darin, auf Stehpartys Visitenkarten und Höflichkeiten auszutauschen. Andere haben dagegen die besondere Fähigkeit, der Themse beim Fließen zuzusehen.

Von Christian Zaschke, London

Es gibt Menschen, die deutlich besser darin sind als ich, lächelnd auf Stehpartys herumzustehen und Visitenkarten zu verteilen. Manche, und durchaus auch freundliche Menschen, sind sogar umwerfend gut darin. Ich hingegen bin zum Beispiel sehr gut darin, die Themse an der Westminster Bridge gen Süden zu überqueren, rechts abzubiegen und dem Fluss zu folgen, bis da diese kleine Kaffeebude steht, die, ungelogen, den vermutlich besten Espresso in ganz London verkauft. Ich bin, wenn ich das so unbescheiden sagen darf, wirklich sehr gut darin, an dieser Bude zu stehen, der Themse beim Fließen und den Houses of Parliament beim Erhaben-Rumstehen zuzusehen und keine Visitenkarten zu verteilen. Vielleicht gehe ich da diesen Tick zu weit, aber ich würde sogar behaupten: Das kann kaum jemand so gut wie ich. Gut möglich, dass ich in dieser Disziplin der Beste bin.

Leider aber war es Dienstagabend, und ich stand nicht am Fluss, um ihm dabei zuzusehen, wie er majestätisch die Stadt durchmisst und eine unsterbliche Mischung aus Quellwasser, Geheimnis und Scheiße der Nordsee entgegenträgt, sondern auf einer Stehparty. Unablässig wurden mir Visitenkarten von Leuten zugesteckt, denen ich im Gegenzug meine Visitenkarte gab. Alle Männer trugen Krawatten, aber fast keiner trug ein Einstecktuch. Manche behaupten, zum guten Anzug gehöre ein Einstecktuch.

Ich steckte all die Visitenkarten in meine linke Innentasche, die sich allmählich ausbeulte, als trüge ich eine Walther PPK 7.65 mm in einem Berns-Martin-Halfter, das eigentlich für Revolver gedacht ist. Zu Hause, dies nur am Rande, würde ich all die schönen Visitenkarten in Visitenkartenordner schieben, die ich mir eigens zugelegt habe. Nach dem Einordnen schaue ich sie nie wieder an, außer manchmal. Als die lächelnde Visitenkarten-Verteilerei allmählich abebbte, beschloss ich, mich unauffällig aus dem Staub zu machen. Dann sah ich die Japanerin.

Sie stand vollkommen verloren auf der Stehparty herum, und ich erkannte sofort, dass ihre wahre Stärke darin lag, der Themse beim Fließen zuzusehen. Ich stellte mich vor. "Oh", seufzte sie, "ich liebe Deutschland." Ohne jedes Misstrauen fragte ich: "Warum denn das?" Sie sagte: "Wegen Erich Kästner. Ich habe alles von ihm gelesen." Es ergab sich folgender Dialog. "Pünktchen und Anton?" - "Ah, Pünktchen." "Emil und die Detektive?" - "Ah, Emil." "Das doppelte Lottchen?" - "Ah, Lottchen." "Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee?" - "Ah, Konrad." "Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?" - "Nö." Ich gab ihr meine Visitenkarte, und sie gab mir ihre.

© SZ vom 16.02.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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