Literaturfest:Bücher für die Unendlichkeit

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Bei "Books for Future" feiern Autoren und Kuratoren zehn Jahre Literaturfest in der Muffathalle. Und im Literaturhaus denken Schriftsteller wie Judith Schalansky, Fiston Mwanza Mujila und Volker Braun über die Umbrüche von 1989 nach

Von Bernhard Blöchl, Yvonne Poppek und Antje Weber

Die besten Partys steigen, wenn Unerwartetes passiert, wenn die Götter verrückt spielen und das Leben am Drehbuch schraubt. Beim Literaturfest-Jubiläumsabend in der Muffathalle ist es ein Missverständnis, das der gut getakteten Show den Weg zum Ereignis ebnet. Albert Ostermaier hat gerade seine "Ode an das Lesen" mit dem Publikum geteilt, kämpferisch, laut, hat Sätze in die Welt entlassen wie "Es reicht ein Buch für die Unendlichkeit des Raums", als Irritationen auf der Bühne entstehen. Wo ist die Band? Die Band sollte ihn doch begleiten. Als das sonst hellwache und beste Laune verbreitende Crossover-Kollektiv Konnexion Balkon beim zweiten Teil von Ostermaiers Auftritt zupft, trommelt und fidelt, steigert sich der Autor zu treibender Wortkraft. Herrlich!

Zehn Jahre Literaturfest München, acht literarische Gäste, darunter ehemalige Kuratoren, und eine irre Cover-Gruppe, die spielend Britney Spears, Astor Piazzolla, die Spider Murphy Gang und "Barbapapa" folkloristisch verbrüdert und verschwestert - all das gilt es hier zusammenzubringen, Motto: "Books For Future". Die Bühne steht quer in der Muffathalle, die Gäste nutzen die Liegestühle, Sitzwürfel und Tribüne. Der Rest steht. Und staunt. Über die Vielfalt, die einem hier geboten wird. Der Samstagabend, eröffnet von Literaturhaus-Chefin Tanja Graf und moderiert von Marion Bösker-von Paucker, ist ein Speed-Dating mit der Kunst des gesprochenen Wortes. Knapp sechs Minuten hat jeder Zeit, einzige inhaltliche Vorgabe ist die Frage: "Warum lesen?"

Autobiografisch nähert sich Doris Dörrie dem Thema ("Lesen macht schlank. Lesen macht schön. Und das ist wahr."). Und auch Ingo Schulze, der aktuelle Forum:Autoren-Kurator, entdeckt via Ich-Erzähler die Magie vom Lesen und Schreiben. Elke Schmitter begleitet sich selbst am E-Piano, ihr Text über die russische Dichterin Anna Achmatowa ist traurig und ergreifend. Matthias Politycki liest Gedichte vor ("Gedichtbände sind das Gegenteil von anonymen Tweets"), Dagmar Leupold aus ihren Romanen. Rhythmisch und wortschöpferisch stark ist der Poetry-Slammer Bas Böttcher, der frei spricht, ach was, der frei Versen Leben schenkt und mit Silben Shuffle tanzt. Noch lauter als Ostermaier ist Fiston Mwanza Mujila. Er lacht, singt, groovt, brummt und grölt. Auf Französisch und Deutsch. "Lachen ist Poesie." Da hat er recht. Dann übernimmt die Band, ohne Irritation. Bernhard Blöchl

Am Anfang und am Ende denkt Judith Schalansky an die Schule. "Ich habe jetzt so ein Schulgefühl. Dieses: Ich habe die Aufgabe nicht richtig verstanden", sagt die in Greifswald geborene Autorin. Ingo Schulze, Kurator des Forum:Autoren, hat Schalansky am Freitag gemeinsam mit dem aus dem Kongo stammenden und in Graz lebenden Schriftsteller Fiston Mwanza Mujila zum zweiten Abend über "Fragen an die Welt nach 1989" eingeladen. Vorab hat er die beiden gebeten zu beschreiben, was das Jahr '89 für sie bedeutet. "Eine große Frage", sagt Schalansky. Vielleicht habe eine natürliche Scheu sie deshalb danach suchen lassen, was es im Kleinen bedeutet.

In diesem Kleinen ist Schalansky brillant - und weit weg von einer Themaverfehlung. So schreibt sie von der Neunjährigen, die sie damals war. Von den Schulbänken, die leer bleiben, von der "Stimmung wie bei Hitzefrei", von dem Taschenrechner, den sie von den ersten fünf Mark kaufte, vom Ferienlager mit Bravo-Heft, bei dem ihre Kindheit ein Ende nahm. Auch Mujila gibt eine Antwort, die vom Kleinen ins Große weist. Er erzählt von einer Zugfahrt, von einem Gespräch über sein Land, vom Einfluss der Blöcke USA und UdSSR auf Afrika. "Blickte man 1989 auf die Spitze vieler afrikanischer Länder, fand man dort nichts als Despoten und Diktatoren." Der Mauerfall änderte dies.

Gemeinsam ist den beiden Autoren, dass sie in der Zeit des Umbruchs Kinder waren - und dass sie im Rückblick ihre Geburtsländer nicht negativ betrachten. "Die DDR war Kinderland. Und sie war ein gutes Kinderland", sagt Schalansky. Und Mujila erzählt, dass er, wenn er sich an sein Land unter Diktator Mobutu erinnere, zuerst an Rumba denke. Dennoch verklären sie im Gespräch mit Moderatorin Judith Heitkamp ihre Kindheitsländer nicht, suchen die Distanz, sprechen von überschriebenen Erinnerungen, von Inhalten, die mit dem Ende eines Systems verschwinden und leere Formen zurücklassen.

Und dann erinnert sich Schalansky am Ende noch einmal an die Schule, beschreibt wieder vom Kleinen ausgehend das Große. Sie erzählt, dass sie beim Abitur einen Aufsatz über die Wiedervereinigung schreiben sollten. Bei dem Wort "Vereinigung" habe sie immer an Hochzeit denken müssen, erzählt sie. Und also schrieb sie damals im Abituraufsatz: "Es war eine Hochzeitsnacht, in der der Bräutigam die Braut aufgefressen hat." Yvonne Poppek

Alle reden über 30 Jahre Mauerfall, da will Volker Braun doch auch erwähnen, was er am 9. November 1989 gemacht hat: Er hatte an jenem Abend eine Lesung in Leipzig, mit dem unglaublichen, von ihm selbst vorgeschlagenen Titel "Texte zur Wende". Die letzte Frage an ihn bei jener Lesung lautete: Wann wohl die Mauer geöffnet werde? Braun, der eine Minute vor Beginn des Abends von gewissen Ereignissen in Berlin erfahren hatte, sagte: "Ich glaube, gerade ist etwas passiert." Ob der Dichter also "ein Visionär" sei? "Nee, nee", wehrt Braun die Nachfrage von Moderatorin Cornelia Zetzsche ab, "ein Zeitgenosse!"

Und was für einer. Kaum ein Schriftsteller hat wie er über viele Jahrzehnte erst die DDR, dann das vereinte Deutschland so luzide und kritisch begleitet. Völlig zu Recht gebührt dem heute 80-Jährigen daher als einzigem Gast beim Forum:Autoren eine Einzel-Hommage - oder, wie Kurator Ingo Schulze bei der Sonntags-Matinee im Literaturhaus sagt: "der Thronsessel". Braun ist ein so freundlich lächelnder wie unerbittlich denkender König im Reich der Sprache. "Meine Sanftmut ist hart erarbeitet", sagt er, und damit meint der gebürtige Dresdener wohl durchaus auch seine frühen Jahre als Tiefbauarbeiter im Gaskombinat Schwarze Pumpe. Von den Verhältnissen "ins Politische hineingerissen", schrieb er bald bei aller drastischen Komik bitterernste Dramen, Prosa und Gedichte, die "rückhaltlos aus dem Inneren kamen". Das wurde auch von Seiten des Staats als Provokation gelesen; ein Buch wie sein "Hinze-Kunze-Roman" wurde 1985 erst nach vierjährigem Hin und Her in der DDR (und gleichzeitig der BRD) veröffentlicht. Braun liest daraus Passagen, liest auch Gedichte aus den Jahren vor und nach dem Umbruch, zum Beispiel sein wohl berühmtestes Gedicht "Das Eigentum" von 1990, mit lauter unsterblichen Zeilen wie "Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle".

Da könnte man nun schön zum Forum-Motto "Einübungen ins Paradies" überleiten, hätte Braun das in seinem nie nachlassenden Widerspruchsgeist nicht gleich zu Beginn als "fantastisch, blödsinnig, abgründig" bezeichnet, als "sarkastischen Coup" Schulzes. "Mit dem Paradies will ich eigentlich gar nichts zu schaffen haben", sagt er. Das Paradies sei eine "ermattende, deprimierende Vorstellung". Elend sei, wenn es keine Ideen mehr gebe, sagt Volker Braun, man keine Alternativen sehe. Und: "Unser Utopia ist der Realismus." Wahrzunehmen, was ist, und sei es erschreckend, das ist für ihn die "große utopische Leistung der Literatur". Antje Weber

© SZ vom 18.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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