Literatur:Splatter-Stoizismus nach Wiener Art

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Wien, ca. 1946-1949: Der Blick aus dem Kaffeehaus fällt auf eine russische Patrouille. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Halsstiche aus dem Handgelenk und Uhren, die im Enddarm weiterticken: David Schalkos Roman "Schwere Knochen" erzählt unerhörte Geschichten aus der Unterwelt des Nachkriegs-Österreich.

Von Burkhard Müller

Schwere Knochen. Sie sind das herausragende Merkmal des Krutzler (keiner nennt ihn je mit seinem Vornamen Ferdinand, selbst die eigene Mutter nicht), der zwei Meter misst, dasteht wie ein Berg und eine Hornbrille trägt, die ihn aussehen lässt wie einen Hirschkäfer. Öfter scheint alles Leben in ihm erloschen zu sein. Aber jeder weiß, dass es einen schweren Fehler bedeuten würde, ihn zu berühren, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das kann er nämlich überhaupt nicht leiden, und ob der Berührende es überleben würde, ist sehr ungewiss. Die Spezialität des Krutzler ist der Halsstich, in Sekundenschnelle aus dem Handgelenk geführt: Ehe der Betreffende überhaupt merkt, was ihm passiert, ist er praktisch schon tot. Der Krutzler hat nämlich, was in der Wiener Unterwelt den größten Ruhm bedeutet, seine eigene Handschrift.

Ein Buch wie dieses darf sich nicht von seinem oft grotesken Stoff überwältigen lassen

Die Figur des Krutzler steht im Mittelpunkt von David Schalkos Roman "Schwere Knochen". Um ihn herum gruppiert sich die "Erdberger Spedition", die deswegen so heißt, weil sie aus dem entsprechenden Wiener Proleten-Vorort stammt und stolz darauf ist, bei einem Einbruch so komplett und rasch zu verfahren, als wäre der Geschädigte ausgezogen. So fangen sie an, im Österreich der Dreißigerjahre: der unerschütterliche Krutzler, der nagerhaft unscheinbare Sikora, Wessely genannt "Der Bleiche" und der indolente Fleischhauer Praschak, der unterm Pantoffel seiner Gusti steht. Ihr Pech nur, dass sie am Tag des Anschlusses, als ganz Wien auf dem Heldenplatz Hitler zujubelt, ausgerechnet dem Nazi-Huber die Wohnung ausräumen. Das bringt ihnen allen gemeinsam einen Express-Fahrschein nach Dachau ein.

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Aber in Dachau gehören sie sogleich zur Lager-Elite, denn: "Ohne die Drecksarbeit der Kriminellen wäre so ein Konzentrationslager ein richtiger Sauhaufen gewesen." Besonders der Krutzler muss mit seinen wirksamen Methoden, die er hier zu verfeinern lernt, immer wieder Ordnung herstellen, weil die ungarischen Juden die Spanier hassen, die roten Spanier die katholischen Polen, die Polen die Schwulen und so weiter. Es ist schon eine recht gemischte Gesellschaft, die sich hier versammelt hat. Hier knüpfen die Erdberger jene Kontakte, die ihnen nach dem Krieg helfen werden, die Kleinkriminalität hinter sich zu lassen und zu den Herren der Wiener Unterwelt aufzusteigen, mit dem nachmaligen Polizeipräsidenten etwa.

Zu ihrer goldenen Zeit werden die Jahre 1945 bis 1955, als Wien (wie Berlin) in vier Besatzungszonen geteilt ist und neben Glücksspiel und Prostitution besonders der Schmuggel blüht. Aufpassen muss man nur, dass man sich mit allen Parteien des heraufziehenden Kalten Krieges gut stellt und zugleich nicht allzu tief in deren Händel gerät. Man muss dafür sorgen, dass die beinamputierte Hure Gisela, trotz ihres wilden Protests, dem russischen Kommandanten frei Haus geliefert wird, und darf sich von den blasierten Franzosen nicht provozieren lassen.

Die Aktion "Eiserner Besen" wird den Erdbergern fast zum Verhängnis: Auf russisches Geheiß sollen sie diskret eine Reihe alter Nazis liquidieren, damit die Amerikaner sehen, dass ihre perfide Begnadigungspolitik auf Widerstand stößt. Die Erdberger machen ihre Sache allzu gut: Pilzvergiftung und Schlaganfall werden so täuschend inszeniert, die Leiche eines weiteren Opfers so professionell der Praschak'schen Fleischerei zugeführt, dass der Charakter des Strafgerichts sich ins Unsichtbare zu verlieren droht, womit die Russen auch wieder nicht zufrieden sind.

Die Risiken für ein solches Buch, das sich mit einer Unzahl von Figuren und Aktionen über fast 30 Jahre und 600 Seiten erstreckt, liegen auf der Hand. Es darf sich weder von seinem oftmals grotesken Stoff überwältigen lassen, noch ins allzu Coole abgleiten - die Muster des amerikanischen Noir wären hier fehl am Platz. Und es muss eine angemessene Art finden, sein markantes aber schweigsames Personal zu präsentieren. Sie fürchten weder Knast noch Tod, obwohl beides sie jederzeit ereilen könnte.

Sofern sie über Humor verfügen, spricht er sich in den Spitznamen aus: Das Kamel heißt so wegen seines Buckels, der Simsalabim, weil er bis zu 14 gestohlene Uhren auf einmal in seinem Enddarm verschwinden lassen kann und in geselliger Runde überrascht, weil es aus ihm tickt. Diese Akteure geben sich nicht der psychologischen Reflexion zu erkennen, sondern in ihren Taten, und wenn sie reden, weiß man oft nicht gleich, was sie meinen. Keiner von ihnen spricht Hochdeutsch, so viel kann man voraussetzen. Und doch wäre es ein Fehler, wenn sie Wienerisch parlierten: das würde diese dunkle Dreigroschenoper in einen Komödienstadel verwandeln.

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David Schalko hat darum die gewagte Entscheidung getroffen, durchweg indirekte Rede zu verwenden. An wörtlichem Dialog gibt es nur winzige Fetzen, etwa wenn der Krutzler sagt: So ein Schas, ohne Anführungszeichen. Überall sonst regiert der Konjunktiv. Und obwohl man das gerade in dieser Umgebung nicht vermutet hätte: es geht gut, selbst oder gerade bei den hemmungslosesten Ausbrüchen. "Ob sie völlig deppert sei?, sagte der Krutzler. (...) Beziehungsunfähig! Das sei sie! Halte einen Mann in ihrer Nähe nicht aus. Eine verkappte Lesbierin! Sie nütze den Geschlechtsverkehr nur aus, um sich auf jemanden draufzusetzen wie ein Vogel, der fremde Eier ausbrüte. Raffgierig! (...) Sie solle sich sofort ausziehen, damit er ihr ein Kind machen könne."

Die indirekte Rede schafft hier Genauigkeit durch Distanz

Man darf wohl vermuten, dass der Krutzler nicht gerade "Gechlechtsverkehr" und "Lesbierin" gesagt, sondern zu handfesteren Vokabeln gegriffen hat, die besser zu Zeit und Ort passen. Und dennoch hat der Leser nicht den Eindruck, hier wäre etwas beschönigt oder verwässert worden. Die indirekte Rede auf Langstrecke schafft hier, wie es sonst nur lateinische Schriftsteller vermögen, Genauigkeit durch Distanz, eine Qualität, die angesichts der oft tumultuarischen Vorgänge angenehm berührt. Und zwischen dem, was alle diese Figuren tun und äußern, erhebt immer wieder auch der Erzähler seine versonnene Stimme und merkt etwa an, dass die Befreiten von Mauthausen, wie zuvor an der schlechten, nunmehr an der guten Ernährung massenweise stürben.

Der Roman bekommt durch seinen Ton und seine Haltung in den Griff, was sonst als quirliges Panoptikum nach allen Seiten auseinanderspritzen müsste wie das viele Blut, das freizusetzen die Erdberger niemals zögern. Es ist ein Ton, den man so noch nie gehört hat, und eine Haltung, die man vielleicht am besten als Splatter-Stoizismus bezeichnet. Nur zum Schluss, als schon die Sechziger erreicht sind und Wien aus einer verschollenen Vorzeit ins Licht der Moderne tritt, zeigt das Buch eine gewisse Ermüdung. Das Leben hört auf, jeden Tag lebensgefährlich zu sein (Na gut, der Krutzler legt noch mal sieben Jugos auf einmal um, aber sonst . . . ). Ohne Gefahr jedoch gibt es diese Figuren nicht. Aber das, wie gesagt, passiert zum Glück erst ganz am Ende.

David Schalko: Schwere Knochen. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 575 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.

© SZ vom 29.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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