Oper in Berlin:Verfluchte Unsterblichkeit

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Einem Trank sei Dank 337 Jahre alt: Emilia Marty (Marlis Petersen, Mitte) in "Die Sache Makropulos". (Foto: Monika Rittershaus/Staatsoper Berlin)

Zwischen Leidenschaft und impressionistischem Oberflächenglanz: Leoš Janáčeks Oper "Die Sache Makropulos" in der Berliner Staatsoper unter den Linden.

Von Julia Spinola

Schwere, mechanische Atemgeräusche dringen aus Lautsprechern in den Saal. Da hängt irgendwo jemand an einer Herz-Lungen-Maschine. Ein kleines, puppenhaftes Mädchen im Reifrock läuft an der Rampe entlang in eine leere, weiß vernebelte Kammer hinein. Dann erst setzt mit brutaler Paukenwucht die Ouvertüre ein, die in Töne fasst, woran Emilia Marty, die 337 Jahre alte Protagonistin von Leoš Janáčeks letzter Oper "Die Sache Makropulos", leidet: die furchtbare Getriebenheit eines Lebens, das wie ein Pfeil in die Unendlichkeit gerichtet ist - und die bodenlose Sehnsucht einer Frau, der jede Chance auf biografische Erfüllung versagt ist. Dank einer lebensverlängernden Droge, deren Wirkung ihr Vater Makropulos, Leibarzt des habsburgischen Kaisers Rudolf II., im ausgehenden sechzehnten Jahrhundert an ihr zwangserproben musste, schleppt sich diese Frau in wechselnden Identitäten durch die Zeitläufe. Zahllose Versehrungen und seelische Vernarbungen haben sie zynisch und hart werden lassen. Als frigides Opfer einer verschleißenden Wiederholungsspirale namens Leben übt sie auf die Sterblichen in ihrer Nähe zugleich eine unwiderstehliche, mitunter fatale erotische Faszination aus.

Janáčeks Oper hat so viele verschiedene Gesichter wie ihre Protagonistin. Handelt es sich um eine Komödie, wie bei der gleichnamigen literarischen Vorlage von Karel Čapek? Oder doch eher um einen ziemlich morbiden Opernkrimi, auf dessen Auflösung der Zuschauer bis zu Emilia Martys großer Schlussszene im dritten Akt warten muss? In rasanten Dialogen geht es um einen Gerichtsprozess, um den Erbanspruch auf ein beträchtliches Vermögen, um Testamente, Vaterschaftsfragen und die Suche nach der alchimistischen Unsterblichkeitsformel, der titelgebenden "Sache Makropulos". Recht eigentlich aber dreht sich hier alles um die Zeit, dies "sonderbare Ding", das schon die "Rosenkavalier"-Marschallin wehmütig werden ließ. Doch während Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal sich im Jahr 1910 dreivierteltakttrunken in die Plüschkulisse eines künstlichen Rokokos zurücksinken ließen, treibt Janáček seine Komposition gute fünfzehn Jahre später schonungslos und rabiat einer dystopischen Zukunftsvision entgegen.

Marlis Petersen lässt als Emilia ihren makellosen Sopran funkeln

In Claus Guths Inszenierung an der Berliner Staatsoper Unter den Linden ist die Bühne konsequent zweigeteilt in ein geschäftiges Außen und ein einsames Innen - so wie sich das Leben in Pandemiezeiten auch manchmal anfühlen mag. Die Orte des Opernplots hat der Bühnenbildner Étienne Pluss im Zwanzigerjahre-Stil möbliert: das kafkaeske Aktenarchiv der Anwaltskanzlei Kolenatý im ersten Akt, im zweiten den Künstlereingangsbereich eines Theaters, in dem Emilia Marty als Sängerin der Madama Butterfly auftritt, und eine Hotellobby im dritten. Daneben existiert diese kalte, klinische Zeitkapsel, in die sich die Marty zwischen den Akten immer wieder zum asthmatischen Klang der Herz-Lungen-Maschine zurückzieht. Hier reißt sie sich die blonde Perücke vom Kopf, bricht zusammen, zieht sich um und spaltet sich auf in ihre verschiedenen Lebensalter. Außer dem kleinen Mädchen begegnet sie sich selbst hier auch als Greisin.

Marlis Petersen spielt diese zwischen Lebenshunger, Rastlosigkeit und Erschöpfung zerrissene Diva mit kühler, atemberaubender Perfektion und sie lässt ihren makellosen Sopran in den unterschiedlichen Facetten dieser kleinteiligen Vokalpartie kaleidoskopisch schillern und funkeln. Töne der Leidenschaft, Wärme oder Sinnlichkeit blitzen als brillant kalkulierte Fassade einer innerlich bereits gestorbenen Seele auf. Aus dem durchwegs prächtig besetzten Sängerensemble der zahlreichen Trabanten der Marty ragen Bo Skovhus mit seinem melodiösen Bariton als Prus und Natalia Skrycka als Krista heraus.

Wenn die Musik endlich aus ihrer Getriebenheit erlöst wird, ist die Wirkung ungeheuerlich

In keiner seiner anderen Opernpartituren brodelt, rast und stampft die Musik so ekstatisch wie hier, in keiner anderen treibt Janáček seine der tschechischen Sprache abgelauschte Technik einer minimalistischen Repetition kleinster Motivpartikel so riskant auf die Spitze. Statt jedoch die Zersprengtheit dieser Musik in der Tiefe aufzufächern, sucht Sir Simon Rattle am Pult der Berliner Staatskapelle eher nach einem beinahe impressionistischen Oberflächenglanz, nach Sinnlichkeit und Schmelz. Tatsächlich scheint diese Musik unentwegt danach zu fragen, wie aus den raschen Repliken einer Dialogoper, die auf längere Monologe oder gar Arien verzichtet, Zusammenhang und Kontinuität herzustellen seien, wie der bloße chronometrische Verlauf durch die musikalisch erfüllte Zeit zu überwinden sei. Wenn Emilia Martys Tod die Musik am Ende aus ihrer Getriebenheit erlöst, weicht die expressionistische Härte dem Lyrismus eines apotheotisch strömenden Schlussadagios. Die Wirkung ist ungeheuerlich.

Claus Guths kluger Regieansatz dagegen bleibt letztlich ein wenig blutleer. Da mag der Bewegungschor sich noch so skurril verrenken, wenn Anwaltsgehilfen kopfüber von Bibliotheksleitern krabbeln oder Portiers in rätselhaften Fahrstühlen kopfstehen. Die surrealistischen Spuren, die hier gelegt werden, und zu denen auch geheimnisvolle Schnüre und Löcher im Bühnenboden zählen, führen nirgendwo hin und verbleiben etwas ermüdend im Illustrativen.

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