Jazzer und Popmusiker sollen laut Psychologen seltener unter Lampenfieber leiden. Das ist zweifelhaft, denn etwa bei Charlie Parker und anderen Größen spielten Drogen in diesem Zusammenhang eine sehr starke Rolle. Die Klassik hat es mit einem Kanon von Stücken zu tun, deren technische Bewältigung erwartet wird. Sogar der Stilkodex, beim Musizieren den Körper möglichst stillzuhalten, erhöht den Stressfaktor. Deutlich entspannender wäre es, weiß die Psychologie, sich mit der Musik zu bewegen. Also: Die Klassik ist ein schrecklicher Beruf für Perfektionisten, weil dort eben Perfektion erwartet wird.
Dass die Psychologie in den letzten zwei Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen hat und stärker ins Bewusstsein rückt, ist keineswegs modischer Hypersensibilität geschuldet, sondern hat handfeste Gründe, zugleich ist das technische Niveau kontinuierlich gestiegen. Aufnahmen erhöhen den Druck gewaltig. Peter Tschaikowskys Violinkonzert oder Jacques Iberts Flötenkonzert, die zur Entstehungszeit als unaufführbar galten, zählen heute zum Standardrepertoire bei Erstsemestern. Entsprechend sieht das Vergleichsniveau für Berufseinsteiger aus. Oft sind es bei den Probespielen für die großen Orchester hundert Bewerber und mehr für eine freie Stelle. Viele machen da erste Erfahrungen mit Betablockern. Für manche bleibt sie der Einstieg in eine lebenslange "Angstkarriere".
"Eigentlich sind wir Spitzensportler, aber man behandelt uns nicht so", sagt Jörg Brückner. Beim FC Bayern stehe eine Riege von Physiotherapeuten und Psychologen bereit, die sich um die Spieler kümmerten. Bei Spitzenorchestern wie den Münchner Philharmonikern gebe es nicht mal einen. Kein Sportler gilt heute als Weichei, wenn er über "mentale Probleme" spricht. Nur der Musikbetrieb scheint noch nicht verstanden zu haben, dass sich das Musikmachen wie zuvor der Sport professionalisiert und damit zum Hochleistungssektor entwickelt hat.
"Die Angst ist auch ein Lebensbegleiter"
Wie in Sportteams bleiben Musiker selbst im Orchester ein Stück weit Konkurrenten, und die Probleme eines Einzelnen wirken negativ auf das Ganze. Die meisten Musiker wissen inzwischen aus eigener Erfahrung, dass Schlaf oder Ernährung eine wichtige Rolle für die Lampenfieberfrequenz spielen, von Übezeiten ganz abgesehen. "Aber wenn ein Kollege die Leistung nicht bringt", sagt Brückner, "wird er schnell allein gelassen." Es fehle an einer Kultur des Nachfragens. In jedem vernünftigen Unternehmen, kritisiert er, spreche der Chef mit einem Mitarbeiter, dessen Leistung plötzlich einbreche. Nur in Orchestern blieben die Musiker damit unter sich. Ob jemand "Nerven wie Drahtseile" hat, gilt noch immer als Teil der angeborenen Begabung und wird entsprechend mystifiziert.
Dabei geht es auch den Musikerpsychologen nicht darum, den Berufsstand zu pathologisieren. "Nicht jeder, der aufgeregt ist, hat ein Krankheitsbild", sagt Déirdre Mahkorn. Auch der Berliner Helmut Möller betont, dass ein Drittel aller Orchestermusiker hervorragend mit sich selbst klarkomme und ein weiteres Drittel das Lampenfieber in den Griff kriege. "Die Angst ist auch ein Lebensbegleiter", sagt Möller. Eben deshalb ist er überzeugt, dass es Musikern helfen könnte, mehr über die Mechanismen von Ängsten zu wissen.
"Wenn bei Künstlern von Angstgefühlen die Rede ist", schrieb der verstorbene Bariton Hermann Prey in seiner Autobiografie, "denkt man an Lampenfieber. Ich kriege manchmal eiskalte Hände, so kalt, dass ich das Gefühl habe, sie seien wie abgestorben. Dann denke ich im Stillen: Muss ein gutes Konzert gewesen sein. Denn die kalten Hände sind das körperliche Merkmal der Spannung, derer ich bedarf, um über mich selbst hinauszuwachsen."