Künstliche Intelligenz:"Wir sind in Gegenwart einer gewaltigen Kreatur"

Lesezeit: 6 min

North Shore Surfing in Oahu, Hawaii

Die Euphorie der Aufbruchsstimmung zu den neuen Ufern des Internets trifft "Surfen" viel besser als etwa Graben, Wühlen oder Navigieren.

(Foto: Getty Images)

Künstliche Intelligenz verändert Wissenschaft und Technik. Klar. Aber was macht sie mit der Gesellschaft? Ingenieure, Künstler und Wissenschaftler kommen zu einer unausweichlichen Erkenntnis.

Von Andrian Kreye, London

Es ist gar nicht so verkehrt, in den "Märchen aus 1001 Nacht" nach Erkenntnissen über die künstliche Intelligenz zu suchen. Der Schriftsteller Adam Thirlwell und die Literaturwissenschaftlerin Marina Warner, derzeit Präsidentin der Royal Society of Literature, taten das vergangene Woche im großen Saal des Londoner Rathauses. In der mächtigen Spiralkuppel mit Blick auf Themse und Tower Bridge trafen sich ein paar Dutzend Wissenschaftler, Ingenieure, Künstler und Schriftsteller, um nach schlüssigen Bildern für die künstliche Intelligenz zu suchen.

Da saßen die beiden also im architektonisch hochwertig gleißenden Herbstlicht und machten sich öffentlich Gedanken darüber, ob der morgenländische Märchengeist Dschinn, dieser dienstbare Wunscherfüller aus rauchlosem Feuer, nicht das perfekte Sinnbild für jene digitalen Kräfte sei, die derzeit überall entfesselt werden. Nicht nur könnte man das digitale Lodern als zeitgenössisches Bild für das rauchfreie Feuer sehen, es stellt sich auch die Frage nach der Beherrschbarkeit dieses eigentlich aufmüpfigen Flaschengeistes. Wer ihn aus seiner gottgewollten Gefangenschaft befreit, ahnt erst einmal nicht, was Dschinns Zauberkräfte alles anrichten könnten.

Der Ansatz ist gerade deswegen so richtig, weil die zweite Ära der digitalen Technologien, die gerade in eine dritte mündet (ohne zu Ende zu gehen, aber diese Parallelentwicklungen machen es ja auch gerade so kompliziert) durch zwei so einfache wie schlüssige Metaphern begreifbar wurde, die beide aus der Welt der Literatur stammten. In dieser zweiten Ära verknüpften sich die Rechenmaschinen zu einem weltweiten Netz, in dem sich Gedanken und Informationen frei oder in Bahnen bewegen. Was heute selbstverständlich ist, war vor 25 Jahren noch eine gewaltige gedankliche Überforderung.

Die eine Metapher, mit der das begreifbar wurde, war der Cyberspace, das kybernetische Universum. Das hatte sich der Schriftsteller William Gibson 1982 im letzten Band seiner "Neuromancer"-Trilogie ausgedacht, einer literarischen Weiterführung der Gedanken, die sich der Mathematiker Nobert Wiener gemacht hatte.

Wir sollten uns davor hüten, der künstlichen Intelligenz menschliche Züge anzudichten

Die zweite Metapher, mit der sich die Menschen im Netz zurechtfinden konnten, war das Surfen. Die stammt von der Mediävistin und Bibliothekarin Jean Armour Polly aus der New Yorker Industriestadt Syracuse. Sie verfasste Anfang der Neunzigerjahre als eine der ersten Autorinnen Bücher und Essays über den Einfluss des Internets auf Kinder und Familien. 1992 schrieb sie für eine Fachzeitschrift einen Text über die Informationssuche im Netz.

Damals, drei Jahre vor der Einführung des World Wide Web mit seinen eleganten Benutzerführungen und farbenfrohen Oberflächen, beschrieb man die Benutzung des Internets noch mit Analogien wie Graben, Wühlen oder Navigieren, allesamt mühsame Verfahren. Der kalifornische Jugend- und Freizeitglamour des Surfens traf die Euphorie der Aufbruchsstimmung zu den neuen Ufern des Internets schon sehr viel besser.

Hans Ulrich Obrist hatte eingeladen, um die künstliche Intelligenz aus den Nischen der technologisch-wissenschaftlichen Diskurse ins Leben zu holen. Obrist ist der Schweizer Chef der Serpentine Galleries, den sie in der Fachpresse hin und wieder als "Supercurator" betiteln, was gar nicht so weit hergeholt ist, weil er mit seiner Plexiglas-Brille und dem bunt karierten Flanellanzug durchaus in einem Pixar-Film auftreten könnte. Wobei man diese comicheldenhafte Berufsbezeichnung inhaltlich durchaus ernst nehmen kann. Deswegen funktionieren seine "Marathons" oft so gut, die er alljährlich in London zu einem großen Thema veranstaltet und dazu jedes Mal sehr kluge Menschen einlädt, die erst einmal noch keinerlei Verbindung zueinander haben, dann aber zwölf Stunden lang jeweils ein großes Thema diskursiv umkreisen. Und weil er nicht nur so ziemlich die gesamte Welt der zeitgenössischen Kunst in seinem Kurzwahlverzeichnis hat, sondern auch mit dem Wissenschaftsimpresario John Brockman und der hypervernetzten DLD-Gründerin Steffi Czerny befreundet ist, haben diese Marathons in der Regel eine Relevanz, die weit über Kunst und Kultur hinausgeht.

Nun kamen Adam Thirlwell und Marina Warner bei ihrer Suche nach einem Bild für die künstliche Intelligenz nicht weit. "Der Dschinn ist weder Dämon noch Engel", sagte Warner, was man über so ziemlich jede Technologie sagen könnte. Warners kulturwissenschaftliche Arbeiten drehen sich oft um die Metapher an sich. In ihrem Buch "Phantasmagoria (Geistvisionen, Metaphern und Medien)" hat sie schon vor Jahren Linien vom Frühchristentum zur modernen Medientechnologie gezogen. Aber sie warnt auch davor, Metaphern mit Prophezeiungen zu verwechseln - das sei eine Manie der Gegenwart, die Hälfte der Nachrichtensendungen bestehe inzwischen aus Voraussagen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema