"Wir" im Kino:Wütende Doppelgänger, entstellt von Hass und Sucht?

Lesezeit: 4 min

Und dann stehen sie einfach nur da, stumm und rätselhaft, halten sich an den Händen und starren auf unsere Eingangstür. (Foto: Claudette Barius; Verleih)
  • In der Schlüsselszene von "Wir" stehen sich eine afroamerikanische Familie und ihre Doppelgänger gegenüber.
  • Letztere wollen Rache und lassen den Zuschauer bald auf einen Horrorfilm voller tiefgründiger Metaphern hoffen.
  • Leider enttäuscht Jordan Peeles "Wir" aber und wirkt, als habe der Regisseur zeigen wollen, dass er mit seinen kommerziell erfolgreichen Kollegen mithalten kann.

Von Tobias Kniebe

Das Bild, das sich sofort ins Gedächtnis brennt, hält das Grauen noch wunderbar in der Schwebe. Da stehen vier Menschen, nachts in der Einfahrt eines bürgerlichen Anwesens, unbewegt. Sie halten sich an den Händen und starren auf die Eingangstür. Schemen im Licht der Straßenlaterne, nur ihre Umrisse lassen eine Familie erahnen: ein bärtiger, hünenhafter Vater, eine Mutter mit kurzen Haaren, eine hochgeschossene Teenager-Tochter, ein seltsamer Junge mit Maske. So stehen sie da, stumm und rätselhaft.

Vier andere Menschen schauen von drinnen heraus, extrem beunruhigt: die Familie Wilson. Der Vater, bärtig und groß, greift zum Baseballschläger. Die Mutter telefoniert mit der Polizei. Die Tochter hat ihr Smartphone weggelegt, ihre Augen sind angstgeweitet. Und der Sohn, der gern Masken trägt, spricht das Offensichtliche aus: "Das sind ja wir".

Das ist die Schlüsselszene von Jordan Peeles "Wir" - der Moment, in dem alles noch möglich ist. Der Film läuft da ungefähr eine Viertelstunde, und die Assoziationen, die sich in diesem Moment überschlagen, wecken Angst und Lust und Hoffnung zugleich. Haben wir nicht alle Doppelgänger, die unser Leben komplett aus der Bahn werfen könnten? Ein uraltes Motiv, reich an Wurzeln in der Weltliteratur.

Und falls solche Doppelgänger da draußen existieren, wären sie uns wohlgesonnen? Wer weiß. Wenn sie sich so an den Händen halten, weist das nicht auf soziale Fähigkeiten hin, auf Zusammenhalt, Empathie, Menschlichkeit? Man sollte mit ihnen reden können!

Die Mutter der Killerfamilie spricht es bald aus, mit rauer Stimme: "Wir sind Amerikaner"

Nette Idee, aber äh ... nein. Die nächsten Minuten machen schmerzhaft klar, dass die Polizei so schnell nicht kommen wird, dass diese Fremden sehr stark und sehr wütend sind, und dass sie Rache wollen - schlagen, verletzen, töten. Aber warum? Was hat sie so aufgebracht? Der Horrorfilm, den man als Zuschauer in diesem Moment imaginiert, ist so reich an Bezügen und Metaphern, dass man den Rest der Geschichte kaum erwarten kann.

Denn die afroamerikanische Familie Wilson, die da angegriffen wird, ist intakt und voller Liebe und ohne materielle Sorgen, das wurde schon sorgsam eingeführt. Sie ist, wenn man so will, dem amerikanischen Genozid der Sklaverei entkommen, hat sich von den ererbten Traumata nicht zerstören lassen, hat Kurs gehalten in Richtung Freiheit, Lässigkeit, Bürgerlichkeit: Überlebende.

Was aber ist mit den nicht so Glücklichen? Den Gelynchten, Erschossenen, im Gefängnis Verrotteten, Vaterlosen, Überdosierten, Ausgebeuteten? Bilden sie vielleicht eine Schattenarmee, ein Zombieheer der Entrechteten? Die Mutter der Killerfamilie spricht es bald aus, mit rauer Stimme: "Wir sind Amerikaner". Hat jeder hier einen wütenden Wiedergänger, womöglich die Ausgeburt eines schwarzen Überlebensschuld-Syndroms, entstellt von Hass und Sucht - das, was er geworden wäre als sein eigener schlimmster Feind? Das wirkt so gut vorstellbar, dass man es sogar ohne Erklärung glauben würde.

Was natürlich daran liegt, dass hier ein afroamerikanischer Horrorexperte am Werk ist. Jordan Peele, der eigentlich aus dem Komödiantischen kommt, hat schon in seinem Vorgängerfilm ein sensationelles Gespür für die dunklen Unterströmungen seines Landes bewiesen, dem der Rassismus anhaftet wie ein unauslöschlicher Geburtsfehler. "Get Out" war ein Horrorhit und ein Meilenstein des schwarzen Kinos, der mit dem Oscar für das beste Originaldrehbuch ausgezeichnet wurde. In der Auflösung zwar eine krude Frankenstein-Nummer - aber der Weg dorthin war brillant. Ein junger Schwarzer, der von seiner weißen Freundin auf einen Sklavenhalter-Landsitz in den Süden mitgenommen wird, wo ihre sehr liberalen Eltern ihm bald genauso suspekt vorkommen wie ihre schwarzen Hausangestellten - das bot Wiedererkennungsmomente aus einer Gegenwart, in der Rassenprobleme noch immer wie Tretminen unter der Oberfläche lauern, und mündete in immer beunruhigendere Fremdheits- und Gruseleffekte.

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Von Tobias Kniebe

Richtig untergründige Gesellschaftsanalysen gelingen im Horrorfilm nur den wenigsten

Man hofft also, dass es hier nun genauso clever weitergeht, um Ausgrenzung und Auflehnung, um eine herzlos geteilte Gesellschaft, um die Glücklichen, die gern unter sich bleiben wollen, und die Verdammten, die Einlass begehren, zur Not mit Gewalt. Und in dem Moment, wo das alles schon greifbar in der Luft liegt, erscheint "Wir" tatsächlich wie das definitive Filmwerk zur Gegenwart.

Aber dann zieht der Moment vorbei. Denn irgendwie geht es schon in die Richtung, die man sich ausgemalt hat, nur leider dann doch nicht so beziehungsreich wie erhofft. Kaum nämlich haben die Eindringlinge die Herrschaft über den Haushalt erobert - der Vater Wilson liegt erst einmal kampfunfähig am Boden, Mutter Wilson ist mit Handschellen an den Couchtisch gefesselt - verspüren die Doppelgänger den Drang, sich zu erklären. Zumindest die Frau der gewaltbereiten Gegenfamilie ist der Sprache mächtig.

Die Geschichte, die sie dann erzählt, ist aber leider nicht die Geschichte Amerikas. Es ist die Geschichte einer Regierungsverschwörung aus dem tiefen Universum der B-Pictures, ein bisschen lächerlich und ein bisschen harmlos, jedenfalls ohne die erhoffte historische Wucht. Man will gar nicht verraten, wer die "Verketteten" sind und warum jetzt der Moment der großen "Entkettung" gekommen ist - es reicht zu wissen, dass er stark an eine Zombie-Apokalypse erinnert, wie man sie aus vielen anderen Horrorfilmen kennt, und dass er keineswegs nur die Wilsons betrifft. Diese aber erweisen sich dann zunehmend gut darin, zum gewaltsamen Gegenangriff überzugehen, und räumen nicht nur unter den eigenen Doppelgängern auf.

Der Regisseur Jordan Peele will hier offenbar beweisen, dass er in Sachen Killerthrills und Zombie-Tötungshumor mit all seinen kommerziell erfolgreichen Kollegen mithalten kann, und das kann er absolut - sein Gespür für Kamera und Timing ist beeindruckend. Die Schauspieler, die alle Doppelrollen spielen, in denen sie sich auch quasi selbst an die Gurgel gehen, machen ihre Sache ebenfalls überzeugend - allen voran Lupita Nyong'o, die als Mutter Wilson und ihre dunkle Doppelgängerin immer mehr ins Zentrum der Erzählung rückt.

Und doch - die Erwartungen an diesen zweiten Film waren hoch, und am Ende hätte man sich mehr erhofft. Thrills inszenieren können viele, untergründige Gesellschaftsanalysen gelingen im Horrorfilm nur den wenigsten. Jordan Peele hat mit "Get Out" schon bewiesen, wie gut er das kann, und er wird hoffentlich in diese Richtung weitermachen. Denn am Besten ist er immer dann, wenn das Grauen schon in der Luft liegt - aber alles noch möglich ist.

Us , USA 2019 - Regie und Buch: Jordan Peele. Kamera: Mike Gioulakis. Mit Lupita Nyong'o, Winston Duke, Elisabeth Moss. Universal, 116 Minuten.

© SZ vom 20.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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