Europas Kulturhauptstadt:Reise in die Erinnerung

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Leah Goldberg, eine der berühmtesten Dichterinnen Israels, wuchs in Kaunas auf. Ihr Gedicht "Kiefer" steht auf Hebräisch und auf Litauisch neben ihrem Bild an der Hauswand. (Foto: Kai Strittmatter)

Kaunas in Litauen ist Europäische Kulturhauptstadt, und eine Entdeckung ist überfällig. Ein Besuch an dem Ort, wo sie Europa ausgraben, wie es einst war.

Von Kai Strittmatter, Kaunas

Die litauischste aller Städte. Das wenigstens war ihnen geblieben als Stolz, den Bewohnern von Kaunas. Kaunas, die ewige Zweite, hinter der Hauptstadt Vilnius. Aber: Anders als in Vilnius leben hier heute kaum Russen, kaum Polen, kaum andere Ethnien unter den knapp 315 000 Bewohnern. Eine Stadt, die allein Litauern gehörte: In sowjetischen Zeiten war das mit einem Mal etwas Gutes. Und danach plapperte man es gedankenlos weiter.

Die litauischste aller Städte. Kaunas. Ausgerechnet.

Der Park des Friedens zum Beispiel. Unweit des Busbahnhofs. Eine alte, aus Ziegeln gebaute Moschee steht dort, davor spielen ein paar Kinder. Es ist die Moschee der Tataren, die in Litauen lebten seit dem 14. Jahrhundert, viele von ihnen treue Soldaten des litauischen Großfürsten.

Der Park war einst als Friedhof angelegt, das waren, zumindest anfangs, die guten Zeiten. Als die unterschiedlichen Bürger von Kaunas im Tod noch wenig Scheu voreinander hatten, so wie sie auch das Leben und die Stadt miteinander teilten. Als man einander noch nicht erschlug, erschoss, verriet, vertrieb, verschleppte. Und am Ende schließlich vergaß.

Hauptpostamt in Kaunas aus der Zwischenkriegszeit. (Foto: Walter Bibikow/imago images)

Hier springen sie einem noch heute ins Gesicht, das Europa von einst, das Kaunas von einst. Von der Moschee zur orthodoxen Kirche zum ehemals deutschen Gymnasium sind es nur ein paar Schritte. Litauer lebten hier neben Russen, Polen, Deutsche und Tataren. Juden stellten im Jahr 1900 etwa ein Drittel der Bevölkerung. Den Orthodoxen überließ man den Süden des 1847 eröffneten Friedhofs, in der Mitte begrub man die Römisch-Katholischen und am nördlichen Ende die Lutheraner und die Muslime.

Wo sind sie alle hin, die, die sich nicht Litauer nannten? Ein Ortsbesuch.

"Wir glauben, die Kultur kann unsere Stadt retten vor der Amnesie", sagt Virginija Vitkiené vor einem Saal von Zuhörern aus ganz Europa. Kaunas wird an diesem Samstag offiziell sein Jahr als eine der Kulturhauptstädte Europas einleiten, es teilt sich 2022 den Titel mit dem luxemburgischen Esch-sur-Alzette und Novi Sad in Serbien. Virginija Vitkiené ist in Kaunas die Chefin des Projekts. Man hat die Sinnhaftigkeit des Kulturhauptstadtprogramms oft in Frage gestellt, läppische Kandidaten und Programme haben die Kritik befeuert.

Die Bürgerschaft von Kaunas legt schon seit Jahren verschüttete Schichten wieder frei

Kaunas aber ist eine Entdeckung. Umrahmt von neun mächtigen, vom zaristischen Russland errichteten Forts, gelegen am Zusammenfluss von Neris und Nemunas (Memel), lässt sich hier "das ganze Kaleidoskop der Epochen und politischen Systeme" studieren, wie der litauische Kulturminister sagt. Das ganze Panorama an historischer Größe, politischen Verbrechen und Tragödien. Aber auch den Willen zur Zukunft.

Kaunas, man darf das einen Glücksfall nennen, ist sich auch selbst wieder eine Entdeckung. Die Stadt nennt eine engagierte Bürgerschaft ihr Eigen, die seit einigen Jahren schon lange verschüttete Schichten freilegt, und die sich vom Kulturhauptstadtjahr beflügelt sieht. "Kaunas war ein geplagter Ort", sagt die Kunsthistorikerin Daiva Citvariene. "Wir wussten nicht, wer wir waren und wer wir sein wollten." Sie ist eine derjenigen, die vor ein paar Jahren mit anderen aufbrach, die DNA der Stadt wiederzuentdecken, etwa mit dem CityTelling Festival, das Zeitzeugen zum Sprechen bringt. "Wir wollen die Menschen erinnern an das multiethnische Leben, das über Jahrhunderte in diesem Teil Europas Normalität war, und das traurigerweise verschwunden ist."

Auferstehungskirche in Kaunas, eines der modernistischen Gebäude aus der Glanzzeit der Stadt. (Foto: juriskraulis/imago images)

Es sind viel Trauer und Trauma in diesem Land, in dieser Stadt, die sich mal den Polen, mal den Russen, mal den Deutschen ergeben musste, wo sich Besatzer mit scheinbar gottgegebener Regelmäßigkeit abwechselten, wo Nazischergen Juden bis aus München und Wien heranschleppten, um sie hier der Vernichtung auszuliefern, wo unter den Sowjets Verrat und Deportation alle Volksgruppen trafen.

Den Litauern war lange der eigene Schmerz genug. "Es gab und gibt hier das Gefühl, dass Europa sich noch nie um uns gekümmert hat, dass wir bis heute Europa egal sind", sagt die Kunsthistorikerin Daiva Citvariene. "Also haben viele lange ihre Traumata gepflegt, sich als Opfer gefühlt". Selbst ihre eigene Mutter, erzählt Citvariene, habe sie gefragt, ob sie denn als eine der Kuratorinnen des Kulturhauptstadt-Programmes sich wirklich unbedingt wieder dem Holocaust widmen wolle statt endlich einmal von dem im Rest Europas doch gewiss weit weniger bekannten Leid der Litauer zu erzählen.

Man kann die Geschichte des Verlusts dieser Stadt erwandern entlang gewaltiger Gemälde

Der "Park des Friedens" zum Beispiel heißt erst so, seit die sowjetischen Behörden dem Ort den Krieg erklärten: Mahnwachen und Kerzengedenken der Litauer - anlässlich des Ungarn-Aufstandes 1956 etwa - hatten den Friedhof zum Ort des stillen Protests gemacht, die Sowjets lösten die Gräber daraufhin 1959 auf, verlegten Gebeine, zerstörten Grabkammern.

Schritt für Schritt aber ist bei Daiva Citvariene und Gleichgesinnten das Gefühl gewachsen, allmählich sei die Zeit reif, sich auch den Geschichten der anderen zu widmen.

Es ist eine Geschichte des Verlustes, und die Stadt trägt sie nun auf ihrer Haut. Man kann sie erwandern entlang gewaltiger Wandgemälde. Auf einem Parkplatz abseits der zentralen Achse der zur Fußgängerzone gewandelten Laisvės alėja (Freiheitsallee) kann man der jungen Leah Goldberg dabei zusehen, wie sie sich von der Wand eines hohen Gebäudes über die Rückenlehne eines Stuhles gelehnt, in die Ferne träumt. Die Jüdin Leah Goldberg wuchs in Kaunas auf, studierte in Berlin und Bonn und wurde eine der berühmtesten Dichterinnen des jungen Israel, wo ihr Bild heute den 100-Schekel-Schein ziert. Dazu, auf Hebräisch und auf Litauisch ihr Gedicht "Kiefer", die vers-gewordene Sehnsucht nach der schneebedeckten litauischen Heimat ihrer Kindheit.

Die Häuser der Stadt erzählen aber - hinter einem noch spürbaren Schleier von Tristesse - auch von Zeiten des Aufbruchs, von Glorie und Ruhm. Kaunas, einst Sitz eines Hansekontors, hat mehrfach auch solche Perioden erlebt, und wahrscheinlich nie so sehr wie in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Litauen hatte gerade erst seine Unabhängigkeit erklärt, da besetzte die polnische Armee die Hauptstadt Vilnius. Das noch freie Kaunas wurde Hauptstadt, blieb es zwanzig Jahre lang von 1920 bis 1940 - und erfand sich neu in einem Ausbruch ungeheurer Kreativität.

Es wurden damals über Nacht Verwaltungsgebäude gebraucht, Ministerien, Konsulate, Botschaften. Kaunas gab sich einem Bauboom hin, der ein kleines architektonisches Wunder schuf: eine im Eiltempo ganz im Geist des Modernismus erbaute Stadt, die für die Wiedergeburt des unabhängigen Litauens wegweisend sein wollte, inspiriert vom Art Déco ebenso wie von Bauhausvorbildern: Gebäude aus Stahlbeton mit klaren Strukturen, lichtdurchfluteten Räumen und bisweilen geschwungenen Fassaden und Balkonen.

Die Stadt, einst Sitz eines Hansekontors, hat auch glorreiche Zeiten erlebt, vor allem zwischen den Weltkriegen, als die polnische Armee die Hauptstadt Vilnius besetzt hatte und Kaunas für zwanzig Jahre Kapitale wurde. (Foto: Andrius Aleksandravičius/picture alliance/dpa/Organisatio)

Das Hauptpostamt, das Romuva-Kino, die über die Stadt blickende himmelstrebende Auferstehungskirche sind nur einige der Wahrzeichen aus jener Zeit - der Besucher kann keine 50 Schritte tun, ohne ein Bauwerk aus jener Zeit zu finden: Die Stadt ist der modernistischen Architektur der Zwischenkriegsjahre ein Denkmal wie sonst wohl nur Tel Aviv.

Deutsche Wehrmacht und Rote Armee setzten diesen Jahren der Hoffnung ein Ende. In dem Gebäude an der Vytauto-Straße, das heute Heimat des Kaunas Kulturzentrums ist, hatte die Gestapo ihr Hauptquartier. Den Verhör- und Folterkeller der Gestapo dort übernahm später nahtlos der KGB.

"Wir erzählen die persönlichen Geschichten ehemaliger Bürger, das kommt an."

Sie versuchen sich an einer Balance in Kaunas. Die modernistische Architektur wollen sie 2022 feiern, am liebsten sähen sie das ganze Ensemble als Unesco-Weltkulturerbe. Ebenso die Fluxus-Bewegung: Auch George Mačiūnas ist ein Kind der Stadt, jener Künstler und Autor, der später über Deutschland in die USA auswanderte und dort die Fluxus-Bewegung begründete. Fluxus-Künstlerin Yoko Ono wird deshalb am Sonntag ihre Ausstellung "Ex it" im Gebäude der Zentralbank eröffnen: 100 hölzerne Särge, aus denen Obstbäume hervorwachsen. Ein Symbol für die Widerstandsfähigkeit des Lebens im Angesicht des Todes, wie die Künstlerin mitteilen lässt.

Der Tod und die Zerstörung, sie nehmen großen Raum ein im Programm für 2022, denn auch sie haben Kaunas zu dem gemacht, was es heute ist. Die litauischste aller Städte. Mehrere Monate werden der Erinnerung an das jüdische Leben in der Stadt gewidmet sein. Im Herbst soll ein Buch über die Juden Kaunas erscheinen, es wird das erste sein.

Die tatarische Moschee im Friedenspark von Kaunas. (Foto: Kai Strittmatter)

Im Norden der Stadt findet sich das Fort Nummer 9, eine große Anlage aus unterirdischen Bunkern und gemauerten Festungstürmen. Nach dem Einmarsch der Nazis in Kaunas im Juni 1941 kam es zunächst zu Pogromen auf offener Straße an jüdischen Bürgern, schon bald aber wurden Juden in das Fort abtransportiert. 50 000 Menschen erschossen die Nazis hier, nicht nur Bürger der Stadt. Allein mehr als 1000 aus München und dem Allgäu herangeschaffte Juden fanden hier den Tod, Namenstafeln an den alten Ziegelwänden listen die Ermordeten auf: Margot Wiener, 11 Jahre, Anita Epstein, 15 Jahre, Heinz Zellberger, 16 Jahre. . . Nicht verschwiegen wird die Rolle litauischer Mordbataillone, die als willige Helfer mitmachten beim Holocaust. Die Ausstellung identifiziert 1034 aktive Kollaborateure, die an Erschießungen von Juden direkt teilnahmen. Auch ein Grund, warum viele später lieber vergaßen.

Aber nein, sagt Kunsthistorikerin Daiva Citvariene, es habe kaum Gegenwind gegeben bei ihren Projekten. "Wir erzählen die persönlichen Geschichten ehemaliger Bürger", sagt sie: "Das kommt an." Für sie ist es nur logisch, dass die Tauchgänge in die Geschichte im Programm zu einer Debatte über die Zukunft Europas führen und über den Platz, den Kaunas darin finden kann. Kaunas will wieder wachsen, wieder offener werden, die Universität empfängt längst schon Studenten aus der ganzen Welt. "In unserer polarisierten Welt fehlt es an Empathie", sagt Citvariene. "Was wir hier aufspüren an multiethnischer, multikultureller Vergangenheit, zeigt uns vor allem, was uns heute an Miteinander abgeht."

Es blitzt hier und dort ein Optimismus durch, der nicht nur trotzig ist. "Ach, und du glaubst wirklich, das Vergessen habe das letzte Wort?" Meterhoch prangen diese Zeilen des Dichters Hirsch Oscherowitsch, auch er ein Jude aus Kaunas, an der Wand eines Hauses im Stadtzentrum - Teil eines Wandbilds, vier Stockwerke hoch, das die kleine Rosian Bagriansky und ihre Mutter Gerta zeigt, zwei, die die Judenverfolgung in Kaunas überlebten, weil ihnen Litauer halfen. "Oft ist es ein Bild, das der Asche entsteigt / Und da steht es dann, lebendig und wirklich / Für immer im Rahmen eines jeden Tages, der da kommt".

Vielleicht klappt das ja in diesem Jahr, die Zeichen stehen nicht schlecht: vielleicht holen nicht nur die Bürger von Kaunas ihre Geschichte aus der Vergessenheit, vielleicht entsinnt sich auch Europa dieses Fleckens, der ihm so viel zu erzählen hätte.

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