Jugendliteratur:Raus aus dem Gehäuse

Lesezeit: 2 min

Sich befreien in 100 Wörtern und mit Hilfe eines Songs von David Bowie

Von Florian Welle

Alison McGhee hat ihrem neuen Jugendbuch eine minimalistisch konzentrierte Form gegeben. Jedes der hundert Kapitel besteht aus hundert Wörtern. Im englischen Original von 2018 ebenso wie nun in der vorzüglichen deutschen Übersetzung von Birgitt Kollmann. Sie sind auf der rechten Seite angeordnet, während auf der linken die Kapitelzahlen als chinesische Zeichen zu lesen sind.

In den kurzen, tagebuchartigen Notizen beschreibt der Ich-Erzähler Will, was er auf seinen Streifzügen durch Los Angeles sieht oder wem er auf seinem Weg zu seinem Aushilfsjob im "Dollar Only" - Laden begegnet. Einem angeleinten, aggressiven Hund etwa oder dem kleinen "Kerlchen", das jeden Tag abwartet, bis sich immer zur gleichen Zeit fünf Schmetterlinge auf einer Garagenwand niederlassen. Vor allem jedoch versucht der Sechzehnjährige damit klar zu kommen, was sein Teenagerleben einst gesprengt hatte: Vor drei Jahren brachte sich sein depressiver Vater um, später wurde Playa, seine Freundin aus unbeschwerten Kindergartentagen, nach einem Schulfest vergewaltigt. Seitdem verschanzt sie sich zuhause.

Viele von Wills Überlegungen enden mit einer Frage, die sich direkt an uns zu wenden scheint. "Weißt du, was ich meine?", heißt es einmal. Ein anderes Mal "Verstehst du das?" oder "Das soll der Grund sein? Dafür, dass sie die Tür verschlossen und sie vergewaltigt haben? Als wäre das logisch? Eine Erklärung?" In den Fragen drückt sich seine ganze Hilflosigkeit angesichts der unerklärlichen Ereignisse aus. Gleichzeitig fordern sie die Leser und Leserinnen auf, sich ihre eigenen Gedanken zu machen.

"Gehen. Gehen. Gehen. Raus mit dem Tag. Gehen. Das ist schon fast so etwas wie ein Mantra." Laufen, das kann man heute überall lesen, hat therapeutisches Potential. Will spürt das intuitiv, als er einen Tag nach dem Tod seines Vaters damit beginnt. In Flip-Flops und dem Shirt mit David Bowie-Aufdruck, das er in der Schublade seines Vaters gefunden hat. Gleichzeitig verbindet es ihn mit seiner Mutter, die sich als Krankenschwester mit vielen Nachtschichten wenig um ihn kümmern kann. Deren Lieblingslied ist Bowies melancholisches "Space Oddity". "Musik ist die Zuflucht der Einsamen", hat sein Vater immer gesagt.

"What I leave behind" heißt das Buch im Original. Der Titel verheißt eine hellere Zukunft, die sich am Sternenhimmel von Los Angeles für die beiden Jugendlichen abzuzeichnen beginnt. Gleichzeitig spielt er auf die Traumata der Vergangenheit an. Wills manisches Laufen trägt nämlich zunächst vor allem Züge des Umgehens und Davonlaufens. Die Schuldgefühle, die er auch deshalb mit sich schleppt, weil er seinerzeit das Schulfest früher als Playa verlassen hat, wiegen so schwer, dass er die Strecke zu ihrem Haus konsequent meidet.

Aber auch der deutsche Titel "Wie man eine Raumkapsel verlässt" sitzt.

Hinaus in die unsichtbare Luft, die die Welt bedeutet

Er nimmt nicht nur auf Bowies Weltraum-Song Bezug, dessen Text sich wie ein Leitmotiv durch das Buch zieht: "Ground control to Major Tom/Your circuit's dead/There's something wrong." Er passt auch auf das Schicksal all derer, die in diesem leisen und trotz der tragischen Ereignisse nicht anders als zart zu nennenden Buch, das über weite Strecken nahezu meditative Züge trägt, nach einem Ausgang suchen: Raus aus ihrem schützenden Gehäuse und damit aus der Isolation, "hinaus in die unsichtbare Luft", die die Welt bedeutet.

Will gelingt dies, indem er alle, die ihm im Leben wichtig sind, heimlich mit Kleinigkeiten aus dem "Dollar Only" -Laden beglückt. "Gespenstergeschenke" nennt er sie, die Zuneigung und Mitgefühl ausdrücken. Und, obwohl klein, starke Gesten des unbedingten Überlebenswillens sind. (ab 12 Jahre)

Alison McGhee: Wie man eine Raumkapsel verlässt. Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann. dtv, München 2021. 208 Seiten, 12,95 Euro.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: