Jubiläum:Poesie am richtigen Platz

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Vor 30 Jahren gründete Ursula Haeusgen das Lyrik Kabinett, das sich längst zu einer europaweit bedeutenden Bibliothek entwickelt hat. Sie bietet neben ihren Werken auch den Dichtern aus aller Welt ein Zuhause

Von Antje Weber

Hier geht's ab ins Ungefähre. Denn biegt man in einen schmalen Gang ein, in der Amalienstraße gleich hinter der Universität, gerät man unversehens in eine andere Welt. An den Wänden hängen Tafeln mit Versen, Reime wie "Ich bin nichts Offizielles / Ich bin ein kleines Helles", Raunendes wie "Hinter den tiefsten Erinnerungen / Verwächst die Zeit". Und während man Pflastersteine trotz der Aufschrift "Poesie" mit Füßen tritt, schwingen Zeilen wie diese nach: "Vieles bleibt ohnehin in der Schwebe".

Das stammt aus einem Gedicht von Hans Magnus Enzensberger, wie eine Broschüre zu den "Durchgangsrätseln" verrät, die Neugierigen auf Nachfrage ausgehändigt wird. Da ist man längst schon im Hinterhof durch die Eingangstür eines modernen Kubus getreten, vorbei an einer Sonett-Säule mit drehbaren Gedichtzeilen Petrarcas, ebenfalls von Enzensberger, vorbei an Dichterporträts der Fotografin Isolde Ohlbaum, vorbei an einem Boxsack und Kunstwerken ohne Zahl. Auch deren Herkunft bleibt ungewiss, wenn man nicht nachfragt. Zufall ist das nicht.

Ein Boxsack und Verse - für Ursula Haeusgen ist das kein Widerspruch. Vor wenigen Wochen ist die Lyrik-Förderin gestorben; die Szene hat ihr viel zu verdanken. (Foto: Catherina Hess)

Denn die Hausherrin Ursula Haeusgen liebt das nur An-, das nicht ganz und gar Ausgedeutete. "Diese unmittelbaren Wahrheiten übers Leben muss ich nicht haben", sagt sie energisch, bezogen auf Romane allerdings. Die liest die 77-Jährige schon lange nicht mehr. In Gedichten findet sie alles, was sie braucht, das Ungefähre, das Schwebende. Lyrik sei die "einzig verfügbare Versicherung gegen die Vulgarität des Herzens", hat sie einmal, anlässlich einer Ehrung, mit Joseph Brodsky formuliert. An diesem November-Nachmittag nun sitzt Ursula Haeusgen, mit unverändert aufgerauter Herzlichkeit, in diesem ganz von ihr geprägten Haus und sagt: "Ich habe einfach nur diese Liebe zur Lyrik."

Das wirkt wie Understatement pur, tatsächlich aber ist es: unverstellte Bescheidenheit. "Ich bin kein Spezialist", auch dieser Satz fällt schon in den ersten Minuten. Doch anlässlich des Jubiläums von 30 Jahren Lyrik Kabinett, das an diesem Mittwoch mit einer festlich umrahmten Lesung feiert, muss doch einmal wieder in aller Deutlichkeit gesagt werden: Ohne Ursula Haeusgen gäbe es dieses Lyrik Kabinett nicht. Es gäbe nicht dieses Haus, und es gäbe nicht diese einmalige Bibliothek: die europaweit zweitgrößte Spezialsammlung von Lyrik mit inzwischen 63 000 Gedichtbänden und anderen Medien.

Es war im Jahr 1989, als die gelernte Kauffrau und nebenbei Firmenerbin begann, ihre Liebe zur Lyrik erstmals sichtbar auszuleben: Sie gründete in der Münchner Innenstadt eine Buchhandlung, um ein Zeichen für die oft vernachlässigte Poesie zu setzen. Fünf Jahre später schloss sie wieder, als wirklich gut verkäuflich hatte sich die Poesie eben doch nicht erwiesen. Die Lesungen aber, die Haeusgen von Anfang an veranstaltet hatte - und nach deren Ende Dichterinnen wie Inger Christensen schon mal bei ihr zu Hause auf dem Sofa übernachteten -, hatten sich bereits etabliert. An die allererste von Wolfdietrich Schnurre erinnert heute noch sein Anzug: Vom Münchner Künstler Eugen Kellermeier gegipst und gefedert und damit für die Ewigkeit konserviert, hängt er heute vor den Rollregalen in der Bibliothek.

Die nahm 1994 ihren noch sehr viel kleineren Anfang. Denn Haeusgen gründete nun eben eine Lesegesellschaft als gemeinnützigen Verein - und schenkte ihm ihre Bestände als Grundstock für eine Bibliothek. Die sollte eigentlich ins neu zu gründende Literaturhaus einziehen. Dass das nicht klappte, erwies sich als Glücksfall: Denn nach einigen Jahren Unterschlupf im Institut für Komparatistik überließ die Ludwig-Maximilians-Universität der 2003 von Haeusgen errichteten Stiftung das Hinterhof-Grundstück in der Amalienstraße, zur Pacht für 66 Jahre. Darauf steht nun der transparente Kubus, in großherzigem Mäzenatentum von der Stiftung respektive also der Gründerin finanziert. Heutzutage stammen drei Viertel des Etats für Haus und Mitarbeiter aus den Stiftungserträgen, ein Viertel von der - künftig mit 80 000 Euro unterstützenden - Stadt, vom Freistaat, aus Spenden.

Ein Haus für Gedichte also. Immer noch unglaublich: Eine, wie der Schriftsteller Martin Mosebach einmal schrieb, "ebenso schöne wie bei näherer Überlegung schwer zu verwirklichende Idee" wurde hier 2005 Wirklichkeit. Der Weg zu dieser Bibliothek samt Vortragsraum, die heute selbstverständlich zum Münchner Kulturleben gehört und angesichts steigender Bestände schon Platzprobleme bekommt, war tatsächlich kein einfacher. Doch wenn man Haeusgen heute fragt, wie sie zurückblicke, sagt sie ohne Zögern: "mit Freude, wirklich Freude". Anlass zur Freude bietet auch die Gegenwart: Holger Pils, seit fast sechs Jahren Geschäftsführer der Stiftung, überreicht Haeusgen an diesem Nachmittag in seinem Büro das erste Exemplar einer Anthologie, die er mit Michael Krüger herausgegeben hat; dazu hört man, als eine Art Tusch, die Untermieter vom Münchener Kammerorchester proben.

"Im Grunde wäre ich lieber Gedicht" heißt das Buch, das nicht nur eine Chronik der mehr als 1200 Veranstaltungen der vergangenen Jahre enthält, nicht nur auf mehr als 400 Seiten Gedichte von Anja Utler bis Reiner Kunze versammelt, sondern auch mehr als 60 neue Gedichte. "Für Ursula Haeusgen", die Widmung steht am Anfang, und "da muss ich jetzt fast weinen", sagt die Geehrte, streicht über das Leinen, strahlt. Die größte Herausforderung seien die 30 verschiedenen Sprachen gewesen, sagt Pils, denn die Hälfte der 260 Gedichte ist zweisprachig abgedruckt. Stolz ist er auch auf die "Jahresringe", die sich blau im Buchschnitt abheben. Überhaupt sei diese Anthologie, mit der man das Archiv geöffnet hat, auch "ein bisschen Literaturgeschichte". Wann hat Les Murray zum ersten Mal hier gelesen, wann Seamus Heaney? Wann kamen sie wieder?

Und man hat das Archiv zum Jubiläum noch weiter geöffnet. Nicht nur Lese-, sondern auch Hörbeispiele aus dem großen Mitschnittarchiv will man nach und nach online stellen, als neuer Partner des Portals www.dichterlesen.net; dann kann man beispielsweise eine der Lesungen von Oskar Pastior noch einmal anhören. Um unterschiedliche Zielgruppen anzusprechen, bemühen sich Pils und sein Team überhaupt um neue Formate. Neben den klassischen Lesungen setzen sie vermehrt auf diskursive Veranstaltungen wie das "Lyrische Quartett" oder spielerische wie die Spoken-Word-Reihe "Poetry in Motion".

Dann füllen jüngere Zuhörer als sonst den Raum; die noch jüngeren erreicht man seit vielen Jahren mit "Lust auf Lyrik", den Haeusgen sehr wichtigen Schüler-Workshops. Neben der von ihr initiierten Reihe "Münchner Reden zur Poesie" gibt es inzwischen auch die "Zwiesprachen". Pils will dabei zeitgenössische Lyriker mit der Tradition ins Gespräch zu bringen, um zu "merken, dass man in einem großen Zusammenhang ist". Dem großen Zusammenhang, man kann ihm übrigens auch auf der Webseite nachspüren, wo diese Zeilen des mittelalterlichen Dichters Walther von der Vogelweise stehen: "Oweh wohin entschwanden alle meine Jahre! / War mein Leben ein Traum, oder ist es Wirklichkeit?" Sehr gut ausgedrückt, findet Ursula Haeusgen; sie tendiert zur Antwort Traum.

© SZ vom 04.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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