Es endete damit, dass Joni Mitchell nämlich doch noch einmal "Woodstock" sang, obwohl sie, eigentlich, gar nicht mehr die Stimme dafür hat, wie immer wieder gesagt wird, vor allem von ihr selber. Und danach schmetterte ihr die randvoll gepackte Massey Hall in Toronto auch noch geschlossen ein "Happy Birthday" hin, obwohl Joni Mitchell, eigentlich, erst im November siebzig wird.
Angefangen hatte es damit, dass Jörn Weisbrodt sagte, er wolle den kanadischen Verdienstorden umgehängt bekommen, wenn er die Frau, die seit elf Jahren kein Mensch mehr auf einer Bühne gesehen hat, wieder aus ihrem Versteck locken kann. Und dass das dann auch der auf keinen Fall verpassen dürfe, für den Joni Mitchell, eigentlich, nicht unbedingt seine Tasse Tee ist, wie man hier so sagt. Aber das hat ja nichts zu heißen.
Jörn Weisbrodt hat vor Jahren einmal für die Staatsoper in Berlin Sonderveranstaltungen organisiert, und schon damals war es oft klüger, ihm in solchen Dingen zu vertrauen.
Jetzt ist er der künstlerische Leiter des Luminato-Festivals in Toronto - und das ist nun einmal die Stadt, in der Mitchell einst angefangen hatte, in Cafés zu singen, weil sie nicht einmal das Geld hatte für die Gewerkschaft, bei der Mitglied sein musste, wer damals in Torontos Clubs auftreten wollte.
Das weiß man, genauso wie man ja auch nicht Mitglied der Kirche sein muss, um die Weihnachtsgeschichte schon mal gehört zu haben. Oder: Dass Hillary Clinton ihre Tochter nicht Chelsea genannt hätte, wenn es nicht Joni Mitchells "Chelsea Morning" gäbe. Und dass Joni Mitchell ganz generell für Frauen dieses Alters ungefähr das ist, was für den Mann um die sechzig Bob Dylan darstellt, also: das ewige Idol einer ganzen Generation. Aber wer dieser Generation nun einmal nicht angehört, wird sich zumindest darüber wundern dürfen.
Nicht direkt Ohrwürmer
"Folk" - das letzte Rätsel des 20. Jahrhunderts: Was hat so viele junge, kluge und ansonsten fest im Leben stehende Menschen dazu getrieben, Frauen zu vergöttern, die bodenlange Bußgewänder trugen, während sie zu Gitarrenbegleitung erbittert in den Himmel schrien? Für den Nachgeborenen, und das muss hier zur Erklärung vorausgeschickt werden, war Joni Mitchell nie so recht verständlich und am allerwenigsten ihr messianischer Erfolg.
Das waren ja nun eher nicht direkt simple Friedensweisheiten und Ohrwürmer wie bei, sagen wir: Joan Baez. Das waren eher reißfeste Hanf-Gewebe aus der Gitarre, halbe Romane, und immer wenn trotzdem mal Momente der Eingängigkeit drohten, schoss Mitchells Stimme schrill nach oben, so als wollte sie sich von außen gegen das Ohr damit stemmen.
Für die meisten waren gerade diese überfallartigen Ausflüge in die Lufthoheit der Soprane immer das Allerbeste an ihr, jaja, eine Art Hautgout der Sangeskunst, für die man erst einmal seinen Geschmack entwickeln muss.
Es gibt Leute, die sagen, das sei eine typische Technik aus der kanadischen Provinz Saskatchewan. Es gibt sogar welche, die hier sexuell Ekstatisches erkennen wollten und damit ein Identifikationsangebot an sowohl Verursacher-sein-Wollende wie Auch-haben-Wollende.
Wie auch immer - sicher ist nur, dass Joni Mitchell das aus Altersgründen nicht mehr so wie früher kann und macht. Die viel entscheidendere Frage war, was Joni Mitchell seitdem überhaupt macht.
Wie gesagt: schon ein Jahrzehnt keine Auftritte mehr, nur vor sechs oder sieben Jahren noch einmal eine letzte Platte, die aus der Deckung in die Welt geworfen wurde, ansonsten - Abtauchen, Zurückgezogenheit, wieder Bildermalen.
Erst dieser Tage, im Zuge ihres Wiederauftauchens, hat Joni Mitchell in zwei großen Interviews ausführlich von der Zeit erzählt, als sie in Kanada eigentlich Kunst studierte, während des Studiums ihre Jungfräulichkeit verlor, sofort schwanger war und das Kind weggeben musste, das Singen begann und später in die USA ging. Und wie sie erst Jahrzehnte später wieder Kontakt zu ihrer Tochter aufbauen konnte.
Da saß gar nicht mehr die ätherische Sirene mit dem von der Welt enttäuschten Model-Gesicht, die einem heute auf Youtube entgegentritt wie aus einer fernen Galaxie in Moll; da saß eine erstaunlich handfest und munter daherredende Person, die vor Illusionen warnt und sich das Rauchen nicht nehmen lässt. Helmut Schmidt in jünger und als Frau, wenn man so will.
Bis es zu dieser Mitteilungsoffensive kam, wusste allerdings kaum noch jemand, wo sie steckt. Weisbrodt sagt, er habe zunächst einmal alle Leute gefragt, die je mit ihr Musik gemacht haben. Danach wollte er sich alle vornehmen, die je mit ihr geschlafen haben. Irgendwann stand der Kontakt, wurde ein Tribute-Konzert mit ihren Liedern vorgeschlagen und schließlich das Versprechen abgerungen, selbst auch anzureisen.
In Wirklichkeit ist sie noch ein halbes Jahr 69
Beim letzten Mal, als so etwas versucht wurde, in der Carnegie Hall in New York, war sie dann doch nicht gekommen. In Toronto hat Weisbrodt es jetzt sogar geschafft, dass sie sich von aller Welt für siebzig erklären lässt, obwohl sie in Wirklichkeit noch ein halbes Jahr lang 69 ist - und in Clubs herumhängt, die für Menschen um die dreißig sind.
Während nämlich Hunderte von Teenagern der Altersklasse 50+ mit Autogrammblöcken und Fotoapparaten vor Mitchells Hotel herumwarten, trifft man sie selbst am Vorabend ihres Konzerts, kein Witz, hier: im Soho House Toronto.
Soho-Häuser, man muss das vielleicht noch einmal in Erinnerung rufen, stehen in der Tradition alter englischer Gentlemen-Clubs, verhalten sich dazu aber ungefähr so wie die Burg zur Hüpfburg.
Hier also sitzt am Vorabend ihres Konzertes in allerbester Laune Joni Mitchell und saugt an einer Elektrozigarette. Sie stellt ihren Begleiter als Tony vor. Tony nickt freundlich. Wer um Himmels willen ist denn jetzt Tony? Ist oder war der auch mal berühmt? Gab es nicht mal Männer, die durch den Kontakt mit dieser Frau etwas vom Ruhm abbekamen, so wo das früher, in diesen Rockstar-süchtigen Siebzigern immer den Frauen nachgesagt wurde, die mit großen Männern etwas hatten? Egal.
Tony bekommt seinen Burger, Joni ihren Fisch, und da wollen wir mal nicht weiter stören und gehen an die Bar. Dort sagt Weisbrodt, dass Mitchell auffallend gern Nietzsche zitiert, vor allem aus dem "Zarathustra". Das hätte man von einer Ikone der Hippies vielleicht nicht als allererstes gedacht.
Andererseits: Joni Mitchell hat ihrerseits in den letzten Interviews eher Ernüchterndes über die Realitäten des "Summer of Love" erzählt, und sie selbst hatte sich ja irgendwann auch aufgemacht und war, mit ihrer Gitarre, ihrer Stimme und ihren Gedichten bewaffnet, ins große, kühle Reich des Jazz einmarschiert, ohne dass es sie groß gekümmert hätte, ob sie auf diesem Weg jemandem nachfolgen konnte oder ob ihr wiederum dabei jemand folgte, denn beides ist - Nietzsche - dem freien Menschen schnuppe.
So kam es, dass an diesem Dienstagabend vor der berühmten Massey Hall von Toronto lange, lange Schlangen von Leuten standen, die ihren ganz eigenen Pfad durch all diese Jahre gelegt hatten. Siebzig Prozent Frauen vielleicht, dreißig Prozent Männer.
Die wenigsten immer noch wie gerade auf dem Rückweg von Woodstock, etliche dafür in Schlips und Abendkleid wie zum Besuch der Oper; und sie alle werden, je nach präferierter Werkphase, ihre ganz eigene Joni Mitchell im Kopf und im Herzen getragen haben.
Denn so ging das den Musikern, die dann den Abend bestritten, ja offensichtlich auch. Ihr alter Superschlagzeuger Brian Blade führte die Band im Stil der späten Jahre, während sich am Mikrofon Leute abwechselten, die in sich je eine andere Schaffensphase und Facette von Joni Mitchell weiterzutragen schienen: Glen Hansard, der raue Mann im Jeanshemd und Lizz Wright, bei der ein Gospelchor im Brustkorb wohnt, Al Spx (von Cold Specks), die die Schwärze des Soul mit der von Gothic zusammengelegt hat, und Kathleen Edwards, die dagegen wieder ein helles, jubelndes Hippiemädchen im Blumenrock ist; und Liam Titcomb und Rufus Wainwright natürlich als intro- und extrovertierte Version eines zeitgenössischen Chansonniers.
Das muss einerseits natürlich ganz herrlich sein, jemandem seine eigenen Songs zum Geburtstag zu singen, aber ein bisschen undankbar war diese Rolle auch, weil die Leute noch lieber als Wainwright, Edwards oder Wright natürlich Joni Mitchell gehört hätten.
Sitztanz im Hintergrund
Aber wenn man ganz genau hinsah, konnte man ab Lied Nummer drei in Reihe sechs, Mittelgang, eine Dame mit grauer Hochsteckfrisur im Sitz energisch mittanzen sehen. Nach der Pause sitztanzte sie dann schon im Hintergrund am Bühnenrand. Und als sie eine Stunde später endlich vor das Mikrofon schritt, da ist in der altehrwürdigsten Musikhalle Kanadas etwas los, was man in Europa nur bei Siegtoren in Championsleague-Finals kennt.
Joni Mitchell hat offensichtlich eine heilende, tiefenbeglückende Wirkung und wird entsprechend als Heilige verehrt. Sie zog sich als allererstes die Schuhe aus. Jubel. Sie sagte, gesundheitlich sei gerade alles wieder ganz okay so weit. Jubel. Dann rezitierte sie ein paar sehr, sehr schöne Gedichte mehr, als dass sie sie sang, rhythmisch sparsam untermalt vom Orchester. Das hatte, man glaubt es kaum, fast etwas von Anne Clark.
Für Leute, die Mitchells Sopran-Pirouetten liebten, ist das sicher nur ein Ersatzprogramm. Für jemanden, dessen Tasse Tee es nie war, ist es fast ein Grund, ihrer Kirche doch noch beizutreten. Und wenn man sah, welchen Spaß sie selber dabei zu haben schien, würde man sich sogar über einen zweiten Frühling, mit Welttournee und allem Drum und Dran, kein bisschen wundern.