Als er wegen nachlassender Schulleistungen heruntergestuft werden soll, droht Nora mit einer Blockade. Mit einem Transparent will sie den Zugang zur Schule versperren und jeden vorbeikommenden Lehrer mit einem Witwenfluch belegen. Und als ihre Vorgesetzte einmal eine spöttische Bemerkungen über Noras Mann macht, geht sie mit einer Schere auf sie los und stürmt dann kopflos aus dem Büro, um ans Meer zu fahren, fest entschlossen, nie wieder ihren Fuß in die Firma zu setzen.
Doch das wachsame Auge der Gemeinschaft hat bereits einen Schutzengel in Marsch gesetzt. Am Strand kommt ihr unversehens Schwester Thomas entgegen, eine Nonne, die schon für den irischen Freiheitskämpfer Michael Collins als Meldegängerin unterwegs war. Nun ist sie wieder in geheimer Mission im Einsatz, um Nora von einem falschen Schritt abzuhalten.
Nora Webster ist eine starke Frau und eine Löwenmutter, die selbst vor anonymen Drohbriefen nicht zurückscheut, wenn es darum geht, ihre Kinder zu beschützen. Als sie erfährt, dass ein 17-Jähriger während einer Demonstration, bei der das britische Militär blindlings in die Menge schoss, getötet worden ist, sagt sie: "Wenn ich die Mutter eines dieser erschossenen Jungen wäre, würde ich mir eine Pistole besorgen. Ich hätte eine Pistole im Haus." Aber die verbal so schießwütige Nora ist verkrallt in ihren Schmerz und muss lernen, ihre Krallen zu lockern. Drei Dinge helfen ihr dabei: Zunächst ihr scharfer Verstand, von dem gilt, was Colm Tóibín einmal in einer älteren Erzählung geschrieben hat: "Es war so, als hätte er seine Mutter nur besucht, um in den Gebrauch der Vernunft eingewiesen zu werden." Sodann ihre wiederentdeckte Liebe zur Musik. Und schließlich das Meer.
Denn wie Eilis Lacey aus "Brooklyn" ist Nora nicht nur gut im Rechnen, sondern auch im Schwimmen, was man in beiden Fällen als Hinweis auf die Gabe nehmen darf, sich nichts vormachen und sich niemals unterkriegen zu lassen. "Es war so, als lebte sie unter Wasser und hätte den Versuch, sich wieder nach oben, an die Luft zu kämpfen, aufgegeben", heißt es allerdings am Anfang. Dann aber beginnt sie, sich ganz unmetaphorisch im Rückenschwimmen zu üben, flach und reglos auf dem Wasser zu liegen und dem Auftrieb zu vertrauen.
In Nora Websters Kampf um Selbständigkeit spiegelt sich der irische Freiheitskampf wider
Während in Belfast und Dublin der Nordirlandkonflikt eskaliert, kämpft Nora Webster um ihre ganz persönlich Selbstermächtigung. Allmählich findet sie heraus, wer sie sonst noch ist außer der treuen Ehefrau eines Mannes, der nicht mehr lebt, und der stolzen Mutter von vier wohlgeratenen Kindern. Sie muss es herausfinden, damit sie im vollen Sinne beides sein kann. Dass Selbstlosigkeit nichts wert ist, wenn man sein Selbst von vornherein preisgibt, auch davon erzählt dieser grandiose Roman. Als Donal sich gegen den Willen der Mutter den Wechsel auf ein Internat ertrotzt und seine erste Heimwehkrise durchleidet, widersteht Nora dem Impuls, ihn abzuholen und den Namen der Schule nie wieder zu erwähnen.
Statt dessen verspricht sie ihm Flankenschutz mit regelmäßigen Briefen, Fresspaketen und Besuchen, um die Eingewöhnungsphase zu überbrücken. So erspart sie ihrem Sohn eine Niederlage, und indem sie zum ersten Mal von sich selbst und ihren eigenen Bedürfnissen spricht, hilft sie ihm besser, als wenn sie ihn wieder unter ihre Fittiche genommen hätte. Indem sie Autonomie beweist, macht sie auch ihn autonom. "New Ways to Kill Your Mother" heißt ein Essayband von Colm Tóibín aus dem Jahr 2012. In "Nora Webster" geht es um eine Frau, die die Mutter in sich töten muss, um zu werden, wer sie ist, zu jemandem, der "gelitten und das Leiden hinter sich gelassen hatte und dann zu ihm zurückgekehrt war und es hatte verweilen und in sich wohnen lassen."
Donal spricht einmal etwas geschwollen über das Paradox des Glaubens, das etwas anderes sei als ein Beweis. "Es ist nicht wie zwei und zwei zusammenzählen, sondern eher so, als fügte man zu Wasser Licht hinzu." Schwester Thomas, eigentlich eine Expertin für solche Fragen, drückt es profaner aus: "Es wird alles gut. Es ist eine kleine Stadt, und sie wird Sie behüten. Kehren Sie jetzt zu ihr zurück. Und hören Sie auf zu trauern, Nora. Die Zeit dafür ist vorüber."
Colm Tóibín hat schon oft über übermächtige Mütter geschrieben. Man denke nur an seinen Erzählungsband "Mütter und Söhne" (2006, dt. 2009) oder an die ebenso tyrannische wie lebensuntüchtige Monstermutter aus dem Roman "Die Geschichte der Nacht" (1996, dt. 1999). Zuletzt hat er sogar ein Buch über die Mutter aller Mütter geschrieben. "Marias Testament" (2012, dt. 2014) erzählt von der Mutter Jesu, die ihrem Sohn nicht verzeihen kann, dass er sie verleugnet, als er sich zum Sohn Gottes erklärt. Wie diese Maria ist auch Nora eine ebenso einfache wie erstaunliche Frau, eine Dulderin, deren Geschichte die Dünung von Tóibíns ruhig und kraftvoll rhythmisierter Prosa so sanft am Strand ablegt wie eine Flaschenpost.
Colm Tóibín: Nora Webster. Roman. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag, München 2016. 384 Seiten, 26 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Die Botschaft aber, die in dieser Flaschenpost steckt, ist eine doppelte, spiegelt sich doch in Nora Websters Kampf um Unabhängigkeit der irische Unabhängigkeitskampf wider. Wer will, kann in ihr also durchaus eine Nationalikone sehen. Wie ihre Ahninnen Anna Karenina, Effi Briest oder Emma Bovary gehört Nora Webster schon jetzt in die Galerie der unsterblichen Frauengestalten der Literatur. Zu Recht meldet Colm Tóibín diesen Anspruch an, indem er den Titel seines Buches allein für ihren Namen reserviert, als wäre dieses Buch ein Monument. "Nora Webster" ist ein großer Entwicklungsroman über eine Frau in einem über Jahrhunderte unterentwickelten und fremdbestimmten Land, ein stilles Meisterwerk.