Netzkolumne:30 Tage Lifestream

Lesezeit: 2 min

Ludwig Ahgren, einer der Twitch-Stars, war gerade 30 Tage am Stück auf Sendung. (Foto: twitch.tv/ludwig)

Immer mehr Leute werden im Netz zu Stars, indem sie einfach ihren Alltag mitlaufen lassen. Rund um die Uhr. Auch im Schlaf. Das generiert Millionen von Stunden Abrufzeit.

Von Michael Moorstedt

Wer seine halbwüchsigen Kinder danach fragt, was sie so mit ihren Freunden machen, bekommt ja oft einsilbige Antworten. Abhängen oder einfach nur quatschen, bekommt man dann zu hören. Es ist nur logisch, dass sich diese Lieblingsbeschäftigungen auch im Internet fortsetzen. Just Chatting ist jedenfalls mit die beliebteste Kategorie auf der Streaming-Plattform Twitch, die ursprünglich mal dazu gedacht war, anderen Leuten dabei zuzusehen, wie sie Videospiele spielen.

Im vergangenen Jahr wuchs die Kategorie um 300 Prozent. In einem Monat schaut das Publikum mehr als 200 Millionen Stunden anderen Menschen dabei zu, wie sie über Gott und die Welt reden. Damit ist Just Chatting populärer als Videospiel-Megahits wie Fortnite oder League of Legends zusammen. Lässt sich ein solcher Anstieg noch mit pandemiebedingter Langeweile erklären? Oder steckt vielleicht doch ein anderes, grundlegenderes Bedürfnis dahinter?

Es geht nicht nur um die Substitution eines "dritten Orts", an dem abseits von Familie, Schule und Beruf soziale Bindungen gepflegt werden, sondern um eine allgemeinere Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Just Chatting war bereits stetig am Wachsen, noch bevor das Social-Distancing-Gebot die Menschen in ihre Wohnungen zwang. Das ist ja erst einmal ein tröstlicher Gedanke: Anstatt einem möglichst brutalen Ego-Shooter beizuwohnen oder sich - wie die Erwachsenen - gegenseitig auf Twitter zu beschimpfen, lauscht man stattdessen seiner Lieblingspersönlichkeit, wie sie mehr oder weniger profunde Weisheiten zum Besten gibt.

Die Beziehung zu den Streamern hat die Grenzen traditionellen Fan-Daseins längst überschritten

So werden die Streamer im wahrsten Sinne des Wortes zum Alleinunterhalter. An einem typischen Samstagnachmittag spricht der eine über Gebrauchtwagen, die nächste über Fußball und wieder ein anderer lässt seine Zuschauer gerade darüber abstimmen, was er sich gleich kochen soll. Auch beliebt ist es, einfach Youtube-Videos abzuspielen und zu kommentieren. Das Ganze erinnert eher an ein Radiotalk-Format als an die Zukunft des digitalen Entertainment. Unterbrochen wird der Monolog nur, wenn mal wieder die Namen der neuesten Follower verlesen werden, die gerade ein, wohlgemerkt kostenpflichtiges Abonnement abgeschlossen haben, um auch weiterhin Teil der Gemeinschaft sein zu können.

Drehte es sich auf den üblichen Social-Media-Plattformen in den 2010ern hauptsächlich um Status, vermittelt durch sorgfältig kuratierte Aufnahmen des eigenen Lebens und heftig bearbeitete Selfies, geht es jüngeren Nutzern, die mit den Portalen aufgewachsen sind, zunehmend um Authentizität. Sie filmen sich nicht mehr dabei, wie sie sich Kübel mit eiskaltem Wasser über den Kopf schütten, halb an einer Portion Zimt ersticken oder Kühe schubsen. Sondern dabei, wie sie mit ungewaschenen Haaren in einer mäßig aufgeräumten Wohnung sitzen und ihrem Bewusstseinsstrom freien Lauf lassen. Auch mit solchen Inhalten kann man heutzutage zum Star werden.

Sleep Streaming ist längst nicht mehr nur ein Kalauer von Kulturpessimisten

Die Beziehung, die junge Menschen zu den Streamern aufbauen, hat die Grenzen traditionellen Fan-Daseins ohnehin längst überschritten. Sie müssen nicht mehr witzig, wagemutig oder wunderschön sein. Die hauptsächliche Qualifikation lautet Nachvollziehbarkeit. Natürlich eine viel schwammigere Definition von Talent als bisher. Der Star ist nicht mehr nur Projektionsfläche eigener Wünsche oder unerreichbare Inspirationsquelle, sondern potenzieller Kumpel. Man will nicht mehr sein wie das Idol, weil man glaubt, eh schon so zu sein.

Ludwig Ahgren, einer der Twitch-Stars, war bis letzten Mittwoch für 30 Tage am Stück auf Sendung. Logisch, dass in dieser Zeit auch mal Ruhepausen sein müssen. Neu ist aber, dass sie nicht mehr hektisch gefüllt werden. Trotz oder vielleicht gerade wegen der mäßig spannenden Inhalte gewann der junge Mann in der Zeit mehr als 250 000 neue Abonnenten. Der Livestream wird zum Life-Stream. Manch einer lässt die Kamera sogar laufen, wenn er ins Bett geht. Sleep Streaming ist längst nicht mehr nur ein Kalauer von Kulturpessimisten, sondern ein real existierendes Phänomen. Sucht man auf der Plattform nach dem Stichwort Schlafen, sieht man reihenweise abgedunkelte Zimmer und aufgewühlte Bettdecken. Sehr viel intimer kann es eigentlich nicht mehr werden.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: