Zeitzeugin:Kein Recht auf Ignoranz

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Subtile Schauspielerin sowohl in Tatorten wie in Filmen von Rainer Kaufmann, Matti Geschonek, Christian Petzold: Nina Kunzendorf. (Foto: Matthias Bothor)

Leise gesprochen: Cordelia Edvardsons erschütternder Roman einer Überlebenden, "Gebranntes Kind sucht das Feuer", gelesen von Nina Kunzendorf.

Von Gustav Seibt

Zu Recht sagt Daniel Kehlmann im Nachwort zur Neuübersetzung von Cordelia Edvardsons zuerst 1984 erschienenem Lebensbericht "Gebranntes Kind sucht das Feuer", er sei eine furchtbare Lektüre. Der oft zu leicht gebrachte Hinweis trigger warning sei hier tatsächlich am Platz: "Man muss gefährdete Menschen vor diesem Text warnen." Eine bis zum unerträglichen Extrem gesteigerte Mutter-Tochter-Beziehung zeige er und Details aus der Realität der Vernichtungslager, "die wir lieber nicht wissen würden - die wir aber wissen müssen; denn da es nun einmal geschehen ist, haben wir kein Recht auf Ignoranz".

Es war eine gute Entscheidung, dieses kurze, entsetzte Nachwort in das Hörbuch aufzunehmen, eigens gesprochen von Ulrich Noethen. Was Kehlmann sagt, trifft zu: Auch oder gerade in Nina Kunzendorfs zurückgenommener, fast leiser Interpretation entfaltet der Text eine Wucht, eine mahlstromartige Anziehungskraft, die man erst einmal verkraften muss. So kurz "Gebranntes Kind sucht das Feuer" ist, so raffiniert ist das als Roman bezeichnete Buch aufgebaut. Der Bericht vom Abtransport des jungen, noch halbwüchsigen Mädchens (Cordelia ist erst vierzehn Jahre alt) im Jahr 1943 zunächst nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz, wird gegengeschnitten mit der Familiengeschichte, die die Voraussetzung der Tragödie ist.

Erst Schritt für Schritt begreift das Kind seine tödliche Lage

Es ist ein fast antikischer Fluch, denn Edvardsons Mutter war die aus einer außerehelichen Affäre hervorgegangene Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, deren leiblicher Vater Jude war. Langgässer hatte nun ebenfalls ein uneheliches Kind mit einem Juden, Cordelias Vater Hermann Heller (dessen berühmter Name in dem Buch nicht auftaucht). Zum doppelten bürgerlichen Stigma kommt seit 1933 die rassische Verfolgung: Langgässer gilt als "Halbjüdin", Cordelia ist "Volljüdin".

Die Fluchhaftigkeit der Konstellation entfaltet sich umso schauriger, als sie vor dem Kind beschwiegen wird. Erst Schritt für Schritt begreift es seine tödliche Lage, während im Vordergrund noch eine Fassade gepflegter Bürgerlichkeit aufrechterhalten wird. Die Spannung zwischen Vordergrund und Hintergrund - viel mehr als eine Plotspannung - ist zerreißend. Sie kulminiert in dem fürchterlichen Moment, in dem das Kind eine schon mögliche Rettung - die Mutter hat eine Adoption arrangiert, die Cordelia die spanische Staatsbürgerschaft öffnen würde - ausschlagen muss, damit nicht an ihrer Stelle die Mutter abtransportiert wird. Es gibt in der gesamten Weltliteratur kaum eine zweite so schreckliche und dabei so lakonische Szene. Man denkt an die Alkestis des Euripides, die für ihren Ehemann in die Unterwelt geht. Dass die hoch katholische Autorin Elisabeth Langgässer nach dem Krieg die Erfahrungen ihrer Tochter in den Lagern als Romanstoff verwendete, grenzt ans Unfassbare.

Nina Kunzendorf verzichtet auf alle schauspielerische Ausgestaltung ihres Vortrags

Die Darstellung der Lagerwelt ist gerahmt durch ein privates Unheil, das schon ohne rassische Verfolgung grauenhaft wäre. Dass dieses sich aber unentwirrbar mit dem Kollektivschicksal der Juden verbindet, macht die Welt des Buches höllisch. Edvardsons Stärke zeigt sich auch in der vollkommenen Schonungslosigkeit gegen sich selbst. Eine zweite, eigentlich unerträgliche Szene zeigt das zum ersten Mal in ein schönes Ballkleid gewandete Mädchen, dessen Familienhintergrund noch Geheimnis ist, wie es auf einer Hochzeit unter Hakenkreuzfahnen ausgerechnet von einem schmucken SS-Offizier im Tanz durch die Luft gewirbelt wird und dabei vor Angst die Kontrolle über seine Körperfunktionen verliert.

Man begreift, dass bei solcher Beschämung nur Tonlosigkeit angemessen ist. Nina Kunzendorf verzichtet auf alle schauspielerische Ausgestaltung ihres Vortrags. Edvardsons Buch ist kalt, stolz und bitter. Der Blick auf die Realität der Lager zeigt im Gegensatz zum Klischee von einer klinisch sauberen Vernichtungsmaschinerie eine Welt der Zügellosigkeit, der Verwahrlosung, in der von Fall zu Fall alles erlaubt ist, für die, die Macht haben, auch in der Gesellschaft der Häftlinge. Zwar gibt es Erbarmen, aber es ist so punktuell und verloren, dass kaum Wärme davon ausstrahlt.

Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer. Ungekürzte Lesung mit Nina Kunzendorf und einem Nachwort von Daniel Kehlmann, gelesen von Ulrich Noethen. 3 Stunden 52 Minuten. Argon Hörbuch, Berlin 2023, 22 Euro. (Foto: Argon)

Wie andere Überlebende, Primo Levi zum Beispiel, macht Edvardson auch das Weiterleben zum Thema. Und hier gewinnt das Buch eine unvorhergesehene Aktualität und Dringlichkeit. Die nach dem Krieg nach Schweden ausgewanderte Edvardson wird Korrespondentin in Israel und israelische Staatsbürgerin. Dort erlebt sie 1973 kämpfende jüdische Soldaten, und allein die Tatsache, dass es so etwas gibt: einen Staat für die Juden, der Soldaten hat, vermittelt viel mehr als die Rettung aus dem Vernichtungslager ein Gefühl von Erleichterung. Wie verzweifelt nötig die Existenz des Staates Israel für die Entronnenen der Vernichtung wurde, nicht nur aus Gründen des Schutzes, sondern im tieferen Sinn von Selbstrettung aus der Ohnmacht, hier lässt es sich ein für alle Male begreifen. Wenn man durch die Hölle des davorliegenden Berichts gegangen ist.

Noch die letzte Seite des Buches ist eine Antwort auf das berühmteste Buch von Cordelia Edvardsons Mutter, Elisabeth Langgässers Roman "Das unauslöschliche Siegel". Dort wird die Erlösung der Juden durch Verchristlichung imaginiert. Die Tochter aber schreibt: "Sie" (die Erzählerin, die in der dritten Person von sich redet) "war ein Teil ihres Volks, ein Glied im Bund des unauslöschlichen Siegels".

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