Historische Fotos vom Grauen des Krieges:An einem Junitag in Vietnam

Vor 40 Jahren schoss Nick Ut vor dem südvietnamesischen Dorf Trang Bang ein Foto, das unser Bild vom Krieg für immer prägen sollte. Ein US-Fotojournalist stand damals hinter seinem vietnamesischen Kollegen und schoss dieses Bild nicht. Dafür andere, bislang unveröffentliche Aufnahmen dieses Napalmangriffs.

Von David Burnett

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(Foto: David Burnett/Contact Press Images - Agentur Focus)

Vor 40 Jahren schoss Nick Ut vor dem südvietnamesischen Dorf Trang Bang das Foto, das unser Bild vom Krieg für immer prägen sollte. Kaum ein andere Aufnahme hat den Schmerz derjenigen besser vermittelt, die sich plötzlich inmitten eines Geschehens wiederfanden, das größer und mächtiger war als sie selbst. Ein US-Fotojournalist stand damals hinter seinem südvietnamesischen Kollegen und schoss dieses Bild nicht. Dafür andere, bislang unveröffentliche Aufnahmen dieses Napalmangriffs. 8. Juni 1972, Vietnam. Ich lebte als Magazinfotograf in Saigon, um das damals wichtigste aller Weltgeschehen abzulichten: den Vietnamkrieg. Es war der Anfang des Anfangs vom Ende des Krieges. Die amerikanischen Truppen verließen das Land in großer Zahl, Friedensgespräche hatten in Paris stattgefunden, und die vietnamesischen Streitkräfte begannen, sich mit jenem Begriff anzufreunden, der vor allem der Gewissenserleichterung der Amerikaner diente: der "Vietnamisierung", der schrittweisen Übergabe der Verantwortung für das Kriegsgeschehen von den US-Truppen an die Armee der Republik Vietnam. Drei weitere Jahre sollten bis zum endgültigen, chaotischen Ende eines Jahrzehnts des Krieges noch vergehen, das in der Einnahme Saigons kulminierte. Der 8. Juni aber war ein Tag, der allein deswegen so bemerkenswert war, weil er kein besonderer Tag in diesem Krieg war und doch in die Geschichte einging. Ich hatte den Auftrag der New York Times, ihren Reporter Fox Butterfield auf einer Überlandfahrt zu begleiten. Rund um die großen Kriegsschauplätze war es ruhig geworden, dafür gab es eine anhaltende Welle unberechenbarer bewaffneter Zusammenstöße in den Dörfern und kleineren Städten. Fox und ich nahmen uns einen Mietwagen mit Fahrer, um die Route 1 zu erkunden.

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(Foto: David Burnett/Contact Press Images - Agentur Focus)

In einem kleinen Dorf, in dem es nächtliche Kämpfe gegeben hatte, hielten wir an. Man erzählte uns, dass die Kämpfe in einem Dorf ein paar Meilen weiter noch andauerten. Wir setzten uns ins Auto und fuhren weiter. Schließlich stoppten wir unmittelbar außerhalb des Dorfes Trang Bang vor einer Sperre aus Stacheldraht. Am Rande einer kleinen Siedlung stand ein paar hundert Meter entfernt eine Pagode. Das Geräusch von Handfeuerwaffen war zu hören, manchmal der Einschlag einer Granate. Es schien zu gefährlich, an das Dorf heranzufahren. Also beschlossen wir zusammen mit etwa einem Dutzend anderer Journalisten, Fotografen und Kameraleute zu warten. Nach kurzer Zeit erschienen zwei Skyraider der südvietnamesischen Luftwaffe über unseren Köpfen. Es waren alte, schwerfällige und laute Maschinen, die beide mehrere Napalm-Bomben trugen. Sie flogen große Schleifen und stießen immer wieder steil herab, um ihre Ladung dort abzuwerfen, wo die Stellungen des Vietcong vermutet wurden.

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(Foto: David Burnett/Contact Press Images - Agentur Focus)

Ich hatte schon am Morgen einige Filme verschossen. Jetzt musste ich noch einmal den Film wechseln. Es war eine alte Leica aus den vierziger Jahren mit Schraubgewinde, auf die ein modernes Weitwinkelobjektiv aufgesetzt war. Der Apparat war leicht und kompakt und machte großartige Bilder, hatte aber einen gravierenden Nachteil: Es war furchtbar schwierig, den Film zu wechseln, weil man den Anfang der Filmrolle sehr genau in eine Spule einführen musste. Wenn man nicht genau traf, musste man den Film wieder herausnehmen und von vorne beginnen. Als die Flugzeuge ihre Runden drehten, versuchte ich gerade ein zweites, schließlich ein drittes Mal, den Film einzulegen. Die Flugzeuge rasten vorbei, ich versuchte, sie vor die Linse zu bekommen. Ich machte einige wenige Bilder von den Bomben, die aus dem Flugzeug abgeworfen wurden, und fotografierte den Rauch der unmittelbar darauf folgenden Explosionen in der Nähe der Pagode. Ein paar Sekunden später, als der Rauch sich gerade wieder verzog, geschah etwas Unvorhergesehenes. Tatsächlich passieren genau solche Dinge im Krieg sehr oft. Die wahren Opfer sind oft nicht die Soldaten auf der einen oder der anderen Seite, sondern die Zivilisten in der Schusslinie. Aus den Rauchschwaden sahen wir sie plötzlich in einer Gruppe von vielleicht einem guten Dutzend auf uns zukommen. In diesem Moment sah ich zur Seite.

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(Foto: David Burnett/Contact Press Images - Agentur Focus)

Ich sah Nick Ut, einen jungen vietnamesischen Fotografen, der für die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) arbeitete. Wie die anderen war auch er in Trang Bang hängengeblieben, da es ganz so aussah, als spielten sich die wichtigen Ereignisse des Tages heute hier ab. Neben Nick war Alex Shimkin, ein junger Amerikaner, der Vietnamesisch sprach und für die Washington Post als Übersetzer arbeitete. Beide begriffen sofort, was passierte. Als sie die Zivilisten sahen, die aus dem Rauch heraustaumelten, wussten sie, dass die Bomben ihr Ziel verfehlt hatten.

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(Foto: David Burnett/Contact Press Images - Agentur Focus)

Beide rannten sofort auf die Verwundeten zu. In dieser vielleicht halben Minute schaffte ich es endlich, den Film einzulegen, und rannte selbst die Straße hinunter. Doch das historische Bild dieses Tages war schon gemacht. In diesem Moment in Trang Bang, an diesem Tag, wie er für so viele Vietnamesen während des Kriegsjahrzehnts nur allzu typisch gewesen ist, haben wir als Augenzeugen schlicht das dokumentiert, was diesen jungen Menschen zugestoßen ist. Die sogenannten Kollateralschäden, die Kriege schon immer begleiteten und immer begleiten werden. Verbrannt und unvorstellbar verängstigt, wie diese Kinder es gewesen sind, waren sie vielleicht sogar erleichtert, auf den kleinen Trupp Journalisten an der Straße zu treffen. Durch den Sucher meiner Kamera sah ich, wie einer der Korrespondenten seine Feldflasche hervorholte und Wasser über die Brandwunden eines kleinen Mädchens laufen ließ. Der Bruder und die Schwester des Mädchens, die auch verwundet waren, befanden sich immer noch in Panik. Das nackte Mädchen selbst wirkte hingegen ruhig. Heute wissen wir, dass sie unter Schock stand. Schnell brachte ein vietnamesischer Soldat die Kinder zu den geparkten Fahrzeugen, und nur Minuten später hatte Nick Ut sie in sein Auto gesetzt und fuhr sie ins Krankenhaus.

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(Foto: David Burnett/Contact Press Images - Agentur Focus)

Im Krankenhaus stieß seine Bitte, die Kinder zu behandeln, auf heftige Gegenwehr. Die Ärzte wollten sich nicht Mühe machen, derart schwer verwundete Kinder noch medizinisch zu versorgen. Aber Nick beharrte darauf. Schließlich gaben sie nach und nahmen sie auf. Nick fuhr zurück nach Saigon, wo ich ihn das nächste Mal im Büro von AP traf. In diesen Tagen der analogen Fotografie war das Büro der AP für uns Korrespondenten zur Heimat in der Ferne geworden, zu einem Ort, an den wir stets zurückkehrten, um unsere Bilder zu entwickeln.

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(Foto: Nick Ut/AP)

Nach ein paar Minuten des Wartens am Fotoschalter kam Nick mit einem Abzug aus der Dunkelkammer. Er war klein, er hatte jenes 5x7-Zoll-Format, das die Kabeldienste damals für ihre Übertragungen nutzten. Es war das erste Bild seiner Filmrolle aus Trang Bang. Es war noch feucht. Mit triefend nassen Händen ging Nick zum Schalter, um das Bild dem AP-Redakteur Horst Faas zu zeigen. Ich sah ihnen über die Schulter. Ich konnte das Bild nicht im Detail erkennen, aber mich bestürzte sofort, wie dramatisch und bewegend es war. Ich dachte mir: Das ist besser als alle Bilder, die ich gemacht habe. Wir Fotografen haben ein Gespür für die Qualität der eigenen Arbeit, und wir vergleichen sie andauernd mit allem, was andere tun. In diesem Bild lag etwas Besonderes, etwas Kraftvolles. Faas sagte: "Gute Arbeit, Nick. Schick's los." Natürlich war das für eine Nachrichtenagentur immer das wichtigste: Das Bild zu versenden, an praktisch jede Zeitung und jeden Fernsehsender weltweit. Es gab noch eine kurze Diskussion, weil die Richtlinien von AP keine nackten Menschen auf Bildern erlaubten, aber weil das Bild so heftig war, dauerte die Diskussion nicht lang.

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(Foto: David Burnett/Contact Press Images - Agentur Focus)

Zu diesem Zeitpunkt waren wir in der beengten Dunkelkammer von AP die Einzigen, die das Bild schon gesehen hatten. Innerhalb der nächsten Stunden, als das Bild auf Tausenden Empfängern weltweit aufleuchtete, sahen es die Redakteure und Verleger zum ersten Mal. Sie brachten es, so wie die New York Times, meist auf ihrer Titelseite. 24 Stunden nach jenem angsterfüllten Augenblick auf einer kleinen Landstraße in Vietnam sahen Millionen und Abermillionen Augen das, was wir gesehen hatten. Für einen kurzen Moment konnten sie das Entsetzen und den Schmerz derjenigen mitfühlen, die verwundet worden waren, die sich plötzlich inmitten eines Geschehens wiedergefunden hatten, das größer und mächtiger war als sie. Ich ging zurück zu den Time-Life-Büros und schrieb eine Nachricht an die Verleger von Life in New York, in der ich ihnen Nicks Bild beschrieb und ihnen nahelegte, es zu publizieren. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt war bereits klar, wie außergewöhnlich Nicks Foto war. Nur wenige Bilder haben die Tragik, die der Krieg über Unschuldige bringt, auf so eindringliche und gleichzeitig humane Art gezeigt.

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(Foto: David Burnett/Contact Press Images - Agentur Focus)

Ich verfolgte die Nachrichten über Kim Phuc, "das Mädchen auf dem Bild", sehr lange. Sie wurde von deutschen Ärzten behandelt, studierte schließlich in Kuba, floh auf einer Rückreise aus Moskau auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs und ließ sich mit ihrem Mann in Kanada nieder. Es machte mich wütend, als ich viele Jahre später las, dass Nixon behauptete, das Bild sei "gestellt". Es war alles andere als das. Seit jenem Tag im Juni 1972 habe ich Kim Phuc nicht mehr gesehen - bis zu einem Treffen vor einigen Jahren, das von einem deutschen Kamerateam arrangiert wurde und in Washington DC stattfand.

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(Foto: David Burnett/Contact Press Images - Agentur Focus)

Die Wiederbegegnung mit ihr und Nick Ut war einer dieser seltenen Momente, in denen man erlebt, dass ein Kreis im Leben sich schließt. Nick habe ich in den letzten Jahrzehnten ein paar Mal getroffen. Er ist immer noch voller Energie und arbeitet als AP-Fotograf in Los Angeles. Aber Kim wiederzusehen, war außergewöhnlich. Wir schafften es, die Distanz so vieler Jahre in unserem ersten "Hallo" zu überbrücken. Unsere Umarmung schien Jahre zu umfassen. Damals war sie ein Mädchen, das zum Opfer eines furchtbaren Kriegsunfalls wurde. Jetzt leitet sie eine Stiftung, die sich für Kinder in Kriegsgebieten einsetzt. Ich war damals ein junger Fotograf, derjenige, dem es nicht gelungen war, "das Bild" zu machen. Unsere Leben waren bewegt und beschäftigt, und dann, eines Tages, wurden wir wieder zusammengeführt, so wie einst auf der Straße außerhalb von Trang Bang.

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(Foto: David Burnett/Contact Press Images - Agentur Focus)

In einer Welt der Bilderfluten erscheint die Macht eines einzigen Fotos manchmal unantastbar. Und auf diesem einen Bild ist die eine Hundertstel Sekunde festgehalten, die zu einem geteilten und damit zu einem erinnerten Moment wurde. Wenn ein einziges Foto aber über Jahrzehnte hinweg eine solche Kraft entwickeln kann, dann wird sich die Kraft der Fotografie auch künftigen Generationen erschließen. Der Autor gehört zu den weltweit führenden Reportagefotografen und hat die meisten Weltereignisse und sämtliche US-Präsidenten seit der Amtszeit von John F. Kennedy fotografiert. Aus dem Englischen von Eva Mackensen

© SZ vom 08.06.2012/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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