Held der vereinten Nation:Es kribbelt bei Udo Lindenberg

Lesezeit: 8 min

Udo Lindenberg - natürlich nie ohne Sonnenbrille - vor dem Brandenburger Tor. (Foto: dpa)

Vor 40 Jahren verknallte er sich in die Mädchen aus Ostberlin, heute feiern ihn seine Fans in ausverkauften Fußballstadien. Weil sich Udo Lindenberg so gut beamen kann.

Von Harald Hordych

Es macht pling. Und der Udo ist da. Wenn die Türen aufgehen, ertönt am Aufzug des Hotels Atlantic in Hamburg ein zartes Klingeln. Wenn man sich nach dem Pling umdreht, sind die Türen wieder zu. Und der Udo Lindenberg steht krumm mitten im Plüschfoyer.

1974, als Lindenberg mit "Ball Pompös" berühmt wurde, hätte man gesagt: wie ins Foyer gebeamt. Damals war wegen der Serie "Raumschiff Enterprise" jeder, sobald er plötzlich auftauchte, hergebeamt worden. Der Witz beim Beamen war, dass Raum und Zeit keine Rolle spielten. So gesehen, passt der Ausdruck. Lindenberg ist gerade mit einem Pling ins Jahr 2014 geschickt worden, und er sieht aus, als hätte ihm sein langes Musikerleben nichts anhaben können. Na ja, zumindest seinem Outfit mit dem Schlapphut, der Sonnenbrille und den langen, dunklen Haaren.

Das Udo-Kostüm hat den Zeitsprung gut überstanden. Aber beim Beamen ist noch etwas Seltsames passiert.

68 ist er in diesem Jahr geworden. Aber erst seit einem Jahr spielt er in Fußballstadien vor 50 000 Zuschauern. Zwei Mal Düsseldorf, zwei Mal Leipzig. Vier Mal ausverkauft. Nach 40 Jahren zum ersten Mal. Dass jemand beim Beamen in einem besseren Zustand ankommt, ist ungewöhnlich, besonders bei Udo Lindenberg. Mitte der Nullerjahre war er künstlerisch, körperlich und psychisch am Ende, mit 4,2 Promille im Blut einmal praktisch tot. Nach dem Zusammenbruch brachte er ein neues Album heraus. "Stark wie zwei" wurde sein erfolgreichstes, sein erstes Nummer-eins-Album. Beim Udo 2014 steckt mehr drin als das alte Lied von den Rock-Opas, die wir immer weiter hören wollen, solange sie es ohne Rollator auf die Bühne schaffen.

Die Muttis aus Lindenbergs Songs sind nun seine Groupies

Die beiden Frauen aus Sachsen-Anhalt haben das Pling nicht gehört. Sie haben schon eine Weile im Rauchersalon gewartet. Und jetzt kommt ihr Idol ein bisschen federnd, ein bisschen schleichend, ein bisschen müde, also auf diese Udo-Art in den Salon, und die beiden sind fassungslos: "Mensch, Udo, das gibt's doch gar nicht", rufen sie und springen vom Sofa. "Ich fang' gleich an zu heulen. Das glaubt mir keiner."

Lindenberg signalisiert mit einem vergnügten "Bummdidibumm, didibummdidibumm", dass er bereit ist für ein ausführliches Kennenlernen. Es ist vier Uhr nachmittags. Jetzt beginnt der Udo-Tag. Nachts arbeitet er, joggt um die Alster, schreibt Mails und nicht selten Texte. Er hat gerade gefrühstückt und ist noch bei der ersten Zigarre. Er nennt sie Kinderzigarre, weil sie so leicht ist, mit der nuckelt er sich in den Tag, und jetzt will er was Richtiges. Aber erst will er mal wissen, was die Damen hergeführt hat und wo sie überhaupt herkommen.

Aha, aus Bitterfeld-Wolfen. Ein Wochenende zum Geburtstag in Hamburg? "Klar, die Ecke kenn ich", sagt Lindenberg. "Schatz im Silbersee, die Kloake da. Wir haben da mal Konzert gemacht." Der Udo spricht, wie der Udo eben spricht, nie laut, nie angespannt, mehr so ein Brummeln mit Nordsee-Touch, mit schnodderigen Kommentaren, die immer nach weinenden "Damen" klingen, "eine ist schon ganz nass, in den Augen und um die Nase blass", oder nach "Die Mutter guckt alleine Krimi oder Quiz. Und die Tochter ist da, wo die Action ist." Die Muttis aus Lindenbergs alten Songs sind jetzt seine Groupies.

"Damals waren wir ja noch DDR", sagt Sieglinde Rößler,67, entschuldigend. "Mutter, hat mein Sohn jetzt gesagt, wenn du nach Hamburg fährst, und du hast Glück . . ." Das Unvorstellbare bleibt unausgesprochen. "Da sage ich zu meinem Sohn: Und wenn ich mich vor seine Tür lege." Dann fügt sie rasch hinzu: "War nur Spaß, Udo."

"Na klar", murmelt Lindenberg. "Kommen ja öfter mal Leute her. Vorgestern kam ich aus Istanbul zurück. Der ganze Laden voll, sehr bunt besetztes Empfangskomitee, alles Leute, die ich nicht kenne und dann kennenlerne. Aber eine gewisse Vertrautheit hat man ja durch die Lieder."

Die Lieder. Der Udo. Die DDR. Sieglinde Rößler erklärt, woher die Verehrung kommt: "Er war einer der ganz Wenigen aus Westdeutschland, die uns Ostdeutschen immer ihre Sympathie bekundet haben, die ehrlich an uns interessiert waren. Jung und Alt verehren ihn deshalb."

Lindenberg mit dem Panik-Orchester. Ein mit seinem Anti-Outfit, seinem gegenläufigen Lebensrhythmus, seinem Drogenleben auf dem Kiez konsequent unbürgerlicher Mensch ist längst zum Allgemeingut geworden. Als er später am Abend zu seinem Kino im Atlantic geht, um dem Reporter eine DVD des Leipziger Konzerts vorzuführen, begegnet ihm ein Bekannter aus dem Rauchersalon, ein Mann aus Wiesbaden, ungefähr so ostdeutsch wie Ferdinand Piëch. Anzug, gepflegte Erscheinung, korpulent in Gesten und Erscheinung, im Sektgeschäft. Um die 50. Generation Udo, West.

"Mensch Udo!", ruft er.

"Mensch", nuschelt Lindenberg mit dieser nach Whisky und Tabak schmeckenden Stimme. "Haste was vor? Komm mit, wir gucken Konzert in Leipzig. 50 000 Zuschauer. Stell dir mal vor. Ist das nicht geil?"

Udo Lindenberg ist auf seine alten Tage sehr mit sich im Reinen. Auch dass er an diesem Wochenende zum 25. Jahrestag des 9. November 1989 am Brandenburger Tor mit der Staatskapelle Berlin auftritt, macht ihn stolz. Er hat sich ja auch wie kaum ein anderer deutscher Künstler den Fall der Mauer gewünscht. Was damals ungewöhnlich war, denn so populär war es gerade in linken Kreisen nicht, das kapitalistische Modell BRD auf Kosten des sozialistischen Modells DDR auszuweiten. Worauf es ja hinauslaufen musste.

Udo Lindenberg hat sich schon 1983 mit "Sonderzug nach Pankow" zum Idol der Wiedervereinigung gesungen. "Ich fand, die sprechen meine Sprache, das ist unser Kulturkreis, da ist eine Kulturidentität. David Bowie hat gesungen auf der Westseite am Reichstag, die Vopos schlagen auf der anderen Seite auf die Fans ein, und so fühlte ich mich mit den Menschen immer mehr verbunden - und dachte, diese Mauer mit diesen Diktatoren muss weg."

Die Sonnenbrille wird fallen. Genauso wie die Mauer

Lindenbergs Art zu sprechen und zu singen ist so typisch, dass er mit allem, was er tut, auf dem Grat von Marotte und Masche balanciert. Manches maulfaule Wort bleibt zwischen Lippe und Zigarre stecken, "jaja" oder "und so, ne" sind Bausteine seiner Rhetorik der gestylten Einsilbigkeit. Aber der stotternde Motor kommt in Schwung, sobald es weniger um weltanschauliche Statements als um persönliche Erlebnisse, Eindrücke und Einsichten geht. Hinter der Pose stecken Ehrlichkeit und wenig Großsprecherei. Die ewige Sonnenbrille ist dabei ein effektsicherer Ausdrucksverstärker. Wenn er sie absetzt, ist das wie Trommelwirbel. Zum Vorschein kommen grünblaue Augen und Altersfurchen, die das "eigentlich leichte, nur manchmal anstrengende Rock 'n' Roll-Leben" hinterlassen hat. Und das Signal: Das persönliche Erleben ist vom gesamtdeutschen Udo-Mythos nicht zu trennen.

1 / 7
(Foto: Carsten Dammann)

Udo Lindenberg: In den Augen seiner Zuhörer sieht er, ob ein Song ein Seelentreffer ist, sicher auch an diesem Wochenende am Brandenburger Tor.

2 / 7
(Foto: Dieter Klar/dpa)

Gerade in der DDR hat er viele Seelen getroffen: 1983 gab Lindeberg im Palast der Republik sein einziges Konzert in der DDR vor dem Mauerfall.

3 / 7
(Foto: Reinhard Kaufhold/dpa)

Mit seinem Lied "Sonderzug nach Pankow" wurde der Sänger in diesem Jahr zum Idol der Wiedervereinigung.

4 / 7
(Foto: Jens Kalaene/dpa)

Zehn Jahre nach dem Mauerfall, 1999, hat er vor dem Brandenburger Tor gesungen. Dort traf er auch den früheren sowjetischen Präsidenten Gorbatschow.

5 / 7
(Foto: Andreas Rentz/Getty)

Der große Nuschler sagt von sich, er habe keine Singstimme: "Meine Songs sind gut, weil die Inhalte gut sind."

6 / 7
(Foto: Jan Woitas/dpa)

68 ist er in diesem Jahr geworden. Aber erst seit einem Jahr spielt er in Fußballstadien, zwei Mal in Düsseldorf, zwei Mal in Leipzig.

7 / 7
(Foto: Britta Pedersen/dpa)

Vor wenigen Tagen hat er den Verdienstorden des Landes Berlin erhalten - für sein Engagement gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Homophobie.

Die Sonnenbrille, sie wird fallen wie die Mauer, als es um ein Mädchen aus Ostberlin geht, genaugenommen um zwei.

Dass man die Teilung überwinden muss, weil die Menschen in den beiden Deutschlands zusammengehören, davon war damals nicht nur Lindenberg überzeugt. Nur hat sich kaum etwas so in den Köpfen festgesetzt wie dessen Songs. Und kaum etwas hat bei den Parteibonzen so viel Angst erzeugt wie die Tatsache, dass die DDR-Bürger danach gierten, einen dekadenten Sprücheklopfer in den sozialistischen Hallen leibhaftig singen zu hören. Das war ja erst der Auslöser für den "Sonderzug" gewesen. Udo Lindenbergs Wunsch, mal in der DDR auftreten zu dürfen, war 1979 abschlägig beschieden worden.

Der Song vom Sonderzug "entstand aus dem Mut der Verzweiflung. Bevor das jetzt nie was wird, gehe ich mal richtig in die Vollen. Vielleicht bringt es ja was, wenn man nicht mehr so dezent bleibt, sondern mit Frechheit drangeht." Was der sonst gern vom Kiez, von Rockern, von alternden Stehgeigern und einsamen Sex-Eskapaden und trinkenden Jugendlichen erzählende Udo Lindenberg aus Gronau mit diesem Lied über den Todesstreifen geschickt hat, war das beste Beispiel dafür, wie viel Macht ein gut gemachter Popsong entwickeln kann, in deutscher Sprache.

Udo Lindenberg merkte erst allmählich, wie sehr Menschen auf eine Stimme hören, von der er selbst sagt, sie sei keine Singstimme, sondern die Stimme eines Geschichtenerzählers. "Meine Songs sind gut, weil der Inhalt gut ist." Die besten nennt er "Seelentreffer". Was ganz nebenbei ein wunderbares Beispiel für die unterhaltsame Alltagspoesie ist, die er in seiner Knallbonbon-Sprache so oft kreiert hat. Halligalli-Stadt, Rock'n'Roll-Mops (Lindenberg über Lindenberg), Trallafitti-Tresen, Lady Horror, der Rhythmus, bei dem jeder mit muss, die Olga von der Wolga. 2010 hat Lindenberg den Jacob-Grimme-Preis Deutsche Sprache für seine 600 Songs erhalten.

Gerade seine schrulligen Balladen, die von Sehnsucht und vom Scheitern handeln, und wo es, wenn es gut läuft, "hinterm Horizont weitergeht", waren Seelentreffer. Außenseiter waren immer sein Ding. Schwule, Nutten, Jugendliche ohne Job, Menschen ohne Zukunft. Er sieht in den Augen der Zuhörer, wann ein Song funktioniert. Nur dann? "Ich merke es auch bei mir selbst. Manchmal fange ich im Studio bei einem Song minutenlang das Weinen an. Dann müssen die die Aufnahme abbrechen, damit ich mich erst mal beruhige, so nah geht mir das."

Und jetzt fällt auch die Brille.

Es geht "um eine der heimlichen Hymnen in der DDR", sein "Mädchen aus Ostberlin". Er nennt den Song die "Initialzündung für alles", was dann kam, seine Ost-Sehnsucht, das Auftrittsverbot, den Sonderzug, den er Honecker bis in dessen Toilette jagte, wo Honi, der alte Heuchler, sich heimlich die Rockerjacke anzog.

Es war 1973. Udos erster Tagesbesuch in Ostberlin. Da trifft er sie, und es ist Liebe auf den ersten Blick. "Ja, die gibt's", sagt er auf die einfache Weise, mit der er immer die Leute von der Straße erreichen wollte.

Ja, und dann?

"Und dann hatten wir ein bisschen Rotkäppchen und hoch die Tassen und ein bisschen kuschelkuschel, und so, ne. Und dann sagt sie: Du musst doch irgendwann wieder zurück im Westen sein."

Das war sein erstes Mädchen aus Ostberlin. Das zweite lernte er 1983 beim einzigen Auftritt vor dem Mauerfall im Palast der Republik kennen. Sie sang im FDJ-Chor. "Und da hat es mich dann richtig erwischt. Richtig richtig." Es war die Frau, mit der er "gemeinsam eine Strecke des Lebens abreiten wollte". Aber sie geriet in die Stasifänge. Und heute ist sie eine Hauptfigur in dem Lindenberg-Musical "Hinterm Horizont". Eine wahre Geschichte. "Es gab noch mehr Mädchen aus Ostberlin."

Stille im Rauchersalon. Hört jemand zu? Jedenfalls hat der Geschichtenerzähler zuletzt geflüstert und sich so weit in den entferntesten Winkel des Raumes gelehnt, dass Interviewter und Interviewer in ihren Sesseln wie zwei schiefgewachsene Topfpflanzen hängen.

50 000 Menschen in Leipzig flippen gerade aus. Er aber auch

Was hat er Sieglinde Rößler zum Abschied zugerufen? "Eure Füße müssen weiter, eure Herzen bleiben hier."

Und jetzt noch das Leipzig-Konzert. Lindenbergs Privatkino im Atlantic bietet Platz für sechs breite Sessel. Er setzt sich in die erste Reihe, der Sektmann aus Wiesbaden neben ihn. Nach einer Weile versteht man, warum Lindenberg mehr ist als ein Rock-Denkmal, mehr als jemand, der früh erkannt hatte, dass ein unverwechselbares Image das Überleben im Kulturgeschäft erheblich erleichtert, wie er zugibt. Lindenberg ist auch im Jahr 2014, mal abgesehen von dem Hut und der Brille, eine markante Größe, weil er für seine dreistündige Rock-Revue Rapper wie Jan Delay und Clueso auf die Bühne geholt hat und den alten Songs - im Gegensatz zu sich selbst - "ein hübsches neues Kleidchen angezogen hat", sie moderner, schneller, hip-hopiger gemacht hat. Die alten Songs, "auf die man nicht verzichten kann. Die wollen die Leute einfach hören".

Bei Jonny Controlletti singt der Mann aus Wiesbaden zum ersten Mal den Text komplett mit: "Und dann reicht er mir das Glas, das volle, und sagt: alles unter Kon - trol- leeee! - Super Udo, einfach super!"

Zehn Zugaben mindestens, 50 000 Menschen, Leipzig flippt aus, am Ende klatscht einer im kleinen Atlantic-Kino den Takt von Candy Jane mit. Der Udo.

"Und wenn man das alles jetzt so sieht: kribbelt das?"

Ja, nuschelt Lindenberg. "Das kribbelt."

© SZ vom 08.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: