"A House of Call" beim Musikfest Berlin:Das Röhren des leisen Rebells

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Vimbayi Kaziboni, Dirigent des "Ensemble Modern Orchestra", steht nicht mittig, sondern ganz rechts auf der Bühne. So beginnt das Musikfest Berlin ganz im Sinne des Komponisten und Querstände-Liebhabers Heiner Goebbels. (Foto: Astrid Ackermann/Musikfest Berlin)

Denken, träumen - und immer weiter komponieren: Das "Ensemble Modern Orchestra" unter Vimbayi Kaziboni eröffnet das Musikfest Berlin mit dem wundervollen Antikomponisten Heiner Goebbels.

Von Reinhard J. Brembeck

Der Komponist Heiner Goebbels, er wird nächstes Jahr 70 Jahre alt, war in den Siebzigerjahren Mitbegründer des "Sogenannte Linksradikale Blasorchester". Dass er Querstände und Querdenkereien noch immer liebt, ist in Berlins Philharmonie unübersehbar. Dort steht der Dirigent des "Ensemble Modern Orchestra" nicht vorn in der Mitte vor den frontal zum Publikum spielenden Musikern. Nein, der vor Energie sprühende Vimbayi Kaziboni steht ganz rechts, die Streicher sitzen quer zur orchesterüblichen Aufstellung im Halbprofil zu den Zuhörern. Im Hintergrund sechs Schlagwerker, ein riesiges Hackbrett (Cymbalon), klassische und E-Gitarre, Akkordeon, E-Piano und der erste Kontrabassist spielt auch mal E-Bass, alle Musiker werden elektronisch verstärkt.

So beginnt das Musikfest Berlin, die große Leistungsschau der hauptstädtischen und eingeladenen Großorchester mit der Uraufführung von Heiner Goebbels pausenlos hundertminütigem "A House of Call", das wie alle Goebbels-Stücke von den 1000 zugelassenen Hörern bejubelt wird. Das Stück ist eine in fünfzehn Teilen daherkommende Megasinfonie und letztlich nicht weniger als die Summe der Querdenkereien dieses wundervollen Antikomponisten, der mit seinen Musiktheaterstücken ("Eisler-Material") schon immer und auch jetzt wieder den Spagat zwischen Philosophie, Rock, Widerstand, Avantgarde und Publikumserfolg hinkriegt.

"A House of Call" ist ein Lebenstagebuch, das die akustische Welt des Heiner Goebbels vollkommen vermisst. Avantgarde wird mit Free Jazz gekoppelt, Poprhythmik mit Mikrotonalität, Religion mit Politik, Literatur mit Traditioneller Musik, und Hardcore-Ästhetik mit einer die Stile schamlos schön mixenden Musica impura. Dabei lässt Goebbels natürlich keineswegs seine großen und hymnisch verehrten Lieblingskünstler außen vor, James Joyce, Heiner Müller, John Cage, Samuel Beckett, Pierre Boulez. Vimbayi Kaziboni und das schon seit langem für den leisen Rebellen Goebbels engagierte Ensemble Modern tanzen und rocken sich fast zwei Stunden durch dessen Erinnerungen. Sie dürfen einen Reggae aufführen, sie hämmern, sie untermalen die Stimme von Goebbels einhundertjähriger Mutter bei einigen Eichendorff-Versen und skandieren zuletzt in schlichten und sich nur minimal verändernden Akkorden Samuel Becketts letzten Text "What When Words Gone".

Werden Volkslieder bearbeitet, geht alles Widerspenstige leider oft verloren

So schließt dieser faszinierende Abend mit einem säkularen Gebet, wird zu einem Requiem auf die Auf- und Ausbruchsbewegungen der mitteleuropäischen Musik der letzten 50 Jahre, die sich aus dem Elfenbeinturm der gern weltabgewandten Klassik zur Welt hin öffnete, ohne je die speziellen Errungenschaften der mitteleuropäischen Klassik aufzugeben. Heiner Goebbels ist die zentrale und erfolgreichste Figur dieser Öffnung, einer, der sich stets den Gefährdungen des Crossover und des Pop aussetzt, aber dank seines Querschädels immer durch Stimmigkeit überwältigt.

Jetzt also dieses Requiem, dieses "House of Call", diese Börse für Stimmen. Der Titel ist ein Zitat aus dem Rätsellustbuch "Finnegans Wake" von James Joyce, Seite 41, wo sich auch der schon von John Cage aufgegriffene Neologismus "roratorios" findet, der wunderbar als Gattungsbezeichnung - Röhratorion - für diese Opus magnum taugt. Goebbels entreißt hier Stimmen dem Vergessen, nicht nur die Stimmen seiner genannten Lieblingsdichter, sondern auch viele historische Aufnahmen, die ihn beeindruckten und durchs Leben begleitet haben. Das sind häufig uralte und kratzige Aufnahmen traditioneller Musik, die von Band eingespielt werden, sich gern in Loops verfangen, vom Orchester konterkariert, übertönt und umschmeichelt werden.

Volksliedbearbeitungen sind ein altes und einträgliches Genre, das schon Beethoven bediente. Meist wird dabei der musikalisch widerspenstige Charakter dieser Gesänge durch die Asepsis der Klassik nivelliert, werden Mikrotonalität und Rhythmik kastriert, wird die Rauheit der Stimmen ("grain de la voix" stammt von Roland Barthes, ein weiterer Goebbels-Liebling) durch das glatte Stimmideal der Konzertsäle begradigt. Einen Ausweg aus diesem Dilemma fanden erst Béla Bartók, Manuel de Falla und vor allem Luciano Berio, dessen durch die legendäre Cathy Berberian unvergesslich populär gemachten "Folk Songs" immer wieder als Vorbild bei dem noch radikaler arbeitenden Goebbels durchscheint.

Heiner Goebbels lässt akustische Fundstücke in seiner Fantasie weiter wuchern - bis sie sich zu selbstständigen Stücken auswachsen. (Foto: Uros Hocevar/kolektiffimages)

Viele der von Goebbels aufgegriffenen frühen Aufnahmen bekunden einen erschreckenden Zusammenhang zwischen Unterdrückung und Traditioneller Musik. So die 1916 in Frankfurt an der Oder entstandenen Aufnahmen georgischer Kriegsgefangener. Oder das berühmte armenische Volkslied "Krunk", das der legendäre Sänger, Priester und Musikethnologe Komitas arrangiert hat, gesungen haben es zwei Stars der armenischen Musik, Armenak Shahmuradian (1914) und Zabelle Panosian (1917). Damit erinnert Goebbels an den Genozid an den Armeniern. Eine 1931 im damaligen Deutsch-Südwestafrika entstandene Aufnahme des Chorals "Nun danket alle Gott", in Nama gesungen, evoziert den Völkermord an den Hereros.

Ein Drittel der bis 1954 entstandenen 15000 Wachszylinderaufnahmen des Berliner Phonogramm-Archivs, da ist auch diese Choral-Aufnahme zu finden, wurde in afrikanischen Kolonien gemacht. So steht es in der Materialausgabe zum "House of Calls" (Neofelis Verlag, 140 Seiten, 9 Euro), die eine faszinierende Klangkulturgeschichte des 20. Jahrhunderts liefert und Tiefenbohrungen zu dieser klingenden Musikgeschichte liefert, die die Hörerin nicht notwendig fürs Verständnis braucht, die aber spannend und erhellend zu lesen ist.

Goebbels greift in seinen Überschreibungen Tonfärbung, Melismatik, Rhythmik, Intensität der Vorlagen auf, er denkt, träumt und komponiert sie weiter, kontaminiert sie mit jedem nur erdenklichen Klassikraffinement, mit Minimalmusikpatterns, Schlagwergkaskaden und Rätseln. Er verneigt sich gegen Ende kurz vor Karlheinz Stockhausens "Mantra", er lässt Sentimentalitäten zu, outet sich als Gläubiger und Romantiker. Die akustischen Fundstücke sind in seiner Fantasie weitergewuchert und haben sich ausgewachsen zu selbstständigen Stücken, die einerseits nie ihre respektvoll umhegte Vorlage verleumden, sich andrerseits stimmig in die fünfzehnteilige Suite namens "A House of Call" einfügen, Goebbels reifstes und vollständigstes Meisterwerk.

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