Wie schon in ihrer Comic-Ausstellung Anfang des Jahres verbindet die britische Nationalbibliothek verständlich vermitteltes literarhistorisches Spezialwissen mit einer Präsentation, die ihrem reißerischen Gegenstand gerecht wird, ohne selbst reißerisch zu wirken. Kurator Tim Pye zeigt die "gotische" Bewegung als Reaktion gegen die Aufklärung, gleichsam als Auswuchs bewusst gewählter Irrationalität. Einen Blick auf die Schauertraditionen außerhalb des angloamerikanischen Sprachraums wirft er dabei leider nicht. Das ist einerseits verständlich angesichts der ohnedies zu bewältigenden Materialfülle. Andererseits hätte ein gelegentlicher Hinweis auf E.T.A. Hoffmann oder das Pariser Grand-Guignol-Theater nicht geschadet, um die gegenseitigen europaweiten Einflüsse zumindest anzudeuten.
In England erweist sich Gothic jedenfalls als anpassungsfähiges Genre. Zwar bleibt sein Kern die Lust am Schrecken, aber deren Erscheinungsformen entsprechen immer den jeweiligen Obsessionen der Zeit. Waren im 18. Jahrhundert noch Burgen und Wälder Kontinentaleuropas Schauplatz der unheimlichen Geschehnisse, wird im industrialisierten 19. Jahrhundert die Stadt zur bedrohlichen Projektionsfläche. Das Newgate-Gefängnis in Charles Dickens' "Oliver Twist" ist eine moderne, sehr britische Version des Horrorschlosses. Während Walpole jede Didaktik noch radikal ablehnte, werden "Gothic"-Elemente nun in den Dienst einer profunden Gesellschaftskritik gestellt.
In den 1790er-Jahren malte der Ire Nathaniel Grogan (1740-1807) eine Szene aus Ann Ratcliffs "The Mysteries of Udolpho".
(Foto: Roy Hewson/National Gallery of Ireland)Der Fall des Serienmörders Jack the Ripper
Wie fließend gerade im urbanen Moloch der britischen Metropole der Übergang von Fiktion zur Realität schien, veranschaulicht der Fall des Serienmörders Jack the Ripper. Als 1888 die brutalen Prostituiertenmorde in Whitechapel begannen, verglichen die Zeitungen den Täter sofort mit dem bösen Protagonisten eines Romans, der zwei Jahre zuvor erschienen war: Robert Louis Stevensons Mr Hyde. So weit ging die sensationslüsterne Suche nach Übereinstimmung zwischen Dichtung und Wahrheit, dass der Schauspieler Richard Mansfield der Morde verdächtigt wurde, und das nur, weil er gerade die Doppelrolle als Dr Jekyll und Mr Hyde im Londoner West End spielte. Ein Brief in roter Tinte, der angeblich von Jack the Ripper stammt, ist übrigens das vielleicht schauerlichste Exponat der Londoner Ausstellung.
Gerade verglichen mit solchen wirklichen Morden schlagen die Konventionen des Genres leicht in unterhaltsame Albernheit um. Grusel bewegt sich ja ohnehin haarscharf an der Grenze zur Lächerlichkeit - oder überschreitet sie absichtlich, etwa im Wallace-und-Gromit-Film "Der Fluch des Wer-Hasen". Das Stop-Motion-Modell des titelgebenden, nur für Möhren gefährlichen Riesenkaninchens hat ebenfalls einen Platz in der Auswahl der British Library gefunden. Diese Domestizierung klassischer Schauerkonventionen, ihre popkulturelle Allgegenwart selbst in Kinderbüchern wie Lemony Snickets "Eine Reihe betrüblicher Ereignisse", verwässert zwangsläufig ihren Effekt. Auch die Goth-Mode mit ihrer Vorliebe für Spitze und Mascara spielt eher mit dem Sexappeal edler Blässe, als dass sie Urängste schürt.
Zudem stellte Sigmund Freud schon vor hundert Jahren fest, dass kein gebildeter Mensch mehr an die Rückkehr der Toten als Geister glaube. Freud selbst liefert aber in seinem Essay über das Unheimliche auch eine einleuchtende Antwort auf die Frage, warum wir gebildeten Menschen noch immer erschauern, wenn in der dunklen, leeren Wohnung eine Türe knarrt: Das "Unheimliche", am Tage verdrängt, steige in der Finsternis aus dem Kerker des Unbewussten auf. Dann sei sie da, die Furcht vor dem Fremden im eigenen Haus, vor dem namenlosen Schrecken, der sich jedem Versuch vernünftiger Bändigung widersetze. Bis heute gerinnt dieser Schrecken in unseren Köpfen zu gotischen Monstern.
Terror and Wonder - The Gothic Imagination. British Library, London. Bis 20. Januar 2015. Info: www.bl.uk. Der Katalog zur Ausstellung kostet 25 Pfund.