Gothic-Ausstellung in London:Post von Jack the Ripper

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Erstmals kann man das Originalmanuskript von Mary Shelleys "Frankenstein" neben bewegten Bildern von Boris Karloff in seiner berühmtesten Monsterrolle sehen (neben Elsa Lanchester in dem Film "The Bride of Frankenstein" 1939). (Foto: Universal/The Kobal Collection)

Das Unheimliche fasziniert wie selten zuvor. Die British Library widmet ihre Herbstausstellung der Schauerliteratur, Stokers "Dracula" oder Shelleys "Frankenstein". Das schauerlichste Exponat aber ist ein anderes.

Von Alexander Menden, London

William Wordsworth war empört. "Die Werke Shakespeares und Miltons werden vernachlässigt zugunsten fiebernder Romane, kränklicher und dummer deutscher Tragödien, und Fluten nutzloser und extravaganter Geschichten!" Im Vorwort zum unvollendeten Riesengedicht "The Vale of Esthwaite" ließ Wordsworth keinen Zweifel an seiner Verachtung für die den "Gothic Style", der in der englischen Literatur um sich zu greifen begann, diese Schauergeschichten von blutenden Nonnen und wahnsinnigen Mönchen, finsteren Schlössern, Geistern und Meuchelmorden.

Was 1764 mit Horace Walpoles Roman "The Castle of Otranto" begonnen hatte, war Ende des 18. Jahrhunderts zu einem eigenen Genre geworden. Selbst der Gothic-Hasser Wordsworth konnte sich diesem Einfluss nicht ganz entziehen, wie zwei Zeilen aus "The Vale of Esthwaite" belegen: "At noon I hied to gloomy glades, / Religious woods and midnight shades" - solche "düsteren Lichtungen" und "Mitternachtsschatten" könnten direkt aus Thomas Grays "Elegy, written in a Country Churchyard" stammen, der anderen englischen Urdichtung schwarzer Romantik.

Faszination für das Unheimliche in prächtiger Blüte

Gray und Walpole, enge Freunde (und vermutlich Liebhaber), hatten in ihren Werken irrationalen Impulsen freien Lauf gelassen. Sie öffneten damit die Schleusen einer Subkultur, die heute die westliche Ästhetik in einem Maße durchzieht, das William Wordsworth wahrscheinlich hätte verzweifeln lassen: Die Bandbreite reicht von der Schwundstufe der "Twilight"-Romane bis zum sadomasochistischen Körperhorror Clive Barkers, von The Cure bis zu Tim Burtons "Edward mit den Scherenhänden", von Anne Rices Lestat bis zu Graf Zahl aus der Sesamstraße. Die Faszination für das Unheimliche steht in so prächtiger Blüte wie vielleicht nie zuvor.

Ein gut gewählter Augenblick also für die Herbstschau der Londoner British Library: "Terror and Wonder" ist die bisher größte britische Ausstellung zum Thema Schauerliteratur. Die einzelnen Abteilungen sind durch schwarze Gazevorhänge unterteilt, allenthalben ertönen die Schreie und dramatischen Klanguntermalungen ausgewählter Filmausschnitte aus "The Wicker Man" oder Ken Russells "Gothic". Es ist vermutlich auch das erste Mal, dass man das Originalmanuskript von Mary Shelleys "Frankenstein" neben bewegten Bildern von Boris Karloff in seiner berühmtesten Monsterrolle sehen kann.

Ein eigener Bereich wurde Bram Stokers "Dracula" gewidmet. Hier findet sich ein handschriftlicher Entwurf Stokers für eine Theaterversion seines Vampirklassikers sowie eine "echte Vampirjäger-Ausrüstung": Die Holzkiste enthält unter anderem Holzpflöcke, einen Hammer, eine Pistole und natürlich ein Kruzifix, viktorianische Originale allesamt. Seltsamerweise gibt es vor den Siebzigerjahren kein Indiz für die Existenz einer solchen Vampirjägerkiste.

Die erste Illustration von Dracula in Bram Stokers gleichnamigem Roman aus dem Jahr 1901. (Foto: British Library)

Meilensteine des frühen Schauerkanons

Den Begriff "Gothic" prägte Horace Walpole, er benutzte ihn erstmals in einem Brief, der ebenfalls in London ausgestellt ist. Gotik war ein Sammelbegriff für Anti-Klassik, sie stand für ungezügelte Leidenschaften und eine Welt, die Geister als selbstverständlichen Teil menschlicher Existenz ansah. Auch die Assoziation mit den - im 18. Jahrhundert von den meisten als grotesk empfundenen - architektonischen Details gotischer Kathedralen war dabei durchaus gewollt. Wie der junge Goethe liebte Walpole gerade deren komplexe Verzierungen, wovon das von ihm entworfene Haus Strawberry Hill mit seinen Pappmaché-Stuckaturen in Südlondon noch heute Zeugnis ablegt.

In der British Library ist die Erstausgabe von "The Castle of Otranto" zu sehen, eines Romans, den Walpole zunächst als angebliches mittelalterliches Original veröffentlicht hatte. Die irrwitzige Story hatte alle Elemente, die das Schauergenre jahrzehntelang prägen sollten: einen mittelalterlichen Rahmen, einen Familienfluch, Geheimgänge und Frauen, die ständig in Ohnmacht fallen. Weitere Meilensteine des frühen Schauerkanons waren William Beckfords "Vathek", Ann Radcliffes "The Mysteries of Udolpho", Polidoris "Vampyre", von der British Library alle in ausgesucht schönen Ausgaben oder als Originalmanuskript vorgelegt.

Wie schon in ihrer Comic-Ausstellung Anfang des Jahres verbindet die britische Nationalbibliothek verständlich vermitteltes literarhistorisches Spezialwissen mit einer Präsentation, die ihrem reißerischen Gegenstand gerecht wird, ohne selbst reißerisch zu wirken. Kurator Tim Pye zeigt die "gotische" Bewegung als Reaktion gegen die Aufklärung, gleichsam als Auswuchs bewusst gewählter Irrationalität. Einen Blick auf die Schauertraditionen außerhalb des angloamerikanischen Sprachraums wirft er dabei leider nicht. Das ist einerseits verständlich angesichts der ohnedies zu bewältigenden Materialfülle. Andererseits hätte ein gelegentlicher Hinweis auf E.T.A. Hoffmann oder das Pariser Grand-Guignol-Theater nicht geschadet, um die gegenseitigen europaweiten Einflüsse zumindest anzudeuten.

In England erweist sich Gothic jedenfalls als anpassungsfähiges Genre. Zwar bleibt sein Kern die Lust am Schrecken, aber deren Erscheinungsformen entsprechen immer den jeweiligen Obsessionen der Zeit. Waren im 18. Jahrhundert noch Burgen und Wälder Kontinentaleuropas Schauplatz der unheimlichen Geschehnisse, wird im industrialisierten 19. Jahrhundert die Stadt zur bedrohlichen Projektionsfläche. Das Newgate-Gefängnis in Charles Dickens' "Oliver Twist" ist eine moderne, sehr britische Version des Horrorschlosses. Während Walpole jede Didaktik noch radikal ablehnte, werden "Gothic"-Elemente nun in den Dienst einer profunden Gesellschaftskritik gestellt.

In den 1790er-Jahren malte der Ire Nathaniel Grogan (1740-1807) eine Szene aus Ann Ratcliffs "The Mysteries of Udolpho". (Foto: Roy Hewson/National Gallery of Ireland)

Der Fall des Serienmörders Jack the Ripper

Wie fließend gerade im urbanen Moloch der britischen Metropole der Übergang von Fiktion zur Realität schien, veranschaulicht der Fall des Serienmörders Jack the Ripper. Als 1888 die brutalen Prostituiertenmorde in Whitechapel begannen, verglichen die Zeitungen den Täter sofort mit dem bösen Protagonisten eines Romans, der zwei Jahre zuvor erschienen war: Robert Louis Stevensons Mr Hyde. So weit ging die sensationslüsterne Suche nach Übereinstimmung zwischen Dichtung und Wahrheit, dass der Schauspieler Richard Mansfield der Morde verdächtigt wurde, und das nur, weil er gerade die Doppelrolle als Dr Jekyll und Mr Hyde im Londoner West End spielte. Ein Brief in roter Tinte, der angeblich von Jack the Ripper stammt, ist übrigens das vielleicht schauerlichste Exponat der Londoner Ausstellung.

Gerade verglichen mit solchen wirklichen Morden schlagen die Konventionen des Genres leicht in unterhaltsame Albernheit um. Grusel bewegt sich ja ohnehin haarscharf an der Grenze zur Lächerlichkeit - oder überschreitet sie absichtlich, etwa im Wallace-und-Gromit-Film "Der Fluch des Wer-Hasen". Das Stop-Motion-Modell des titelgebenden, nur für Möhren gefährlichen Riesenkaninchens hat ebenfalls einen Platz in der Auswahl der British Library gefunden. Diese Domestizierung klassischer Schauerkonventionen, ihre popkulturelle Allgegenwart selbst in Kinderbüchern wie Lemony Snickets "Eine Reihe betrüblicher Ereignisse", verwässert zwangsläufig ihren Effekt. Auch die Goth-Mode mit ihrer Vorliebe für Spitze und Mascara spielt eher mit dem Sexappeal edler Blässe, als dass sie Urängste schürt.

Zudem stellte Sigmund Freud schon vor hundert Jahren fest, dass kein gebildeter Mensch mehr an die Rückkehr der Toten als Geister glaube. Freud selbst liefert aber in seinem Essay über das Unheimliche auch eine einleuchtende Antwort auf die Frage, warum wir gebildeten Menschen noch immer erschauern, wenn in der dunklen, leeren Wohnung eine Türe knarrt: Das "Unheimliche", am Tage verdrängt, steige in der Finsternis aus dem Kerker des Unbewussten auf. Dann sei sie da, die Furcht vor dem Fremden im eigenen Haus, vor dem namenlosen Schrecken, der sich jedem Versuch vernünftiger Bändigung widersetze. Bis heute gerinnt dieser Schrecken in unseren Köpfen zu gotischen Monstern.

Terror and Wonder - The Gothic Imagination. British Library, London. Bis 20. Januar 2015. Info: www.bl.uk. Der Katalog zur Ausstellung kostet 25 Pfund.

© SZ vom 14.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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