Ob es Rechte waren, weiß man nicht. Aber der Schaden ist groß für die Kunst, für die Gemeinde. Schon zum zweiten Mal. Risse ziehen sich durchs Glas, Farbe und Kanten sind abgesplittert. Im Wald bei Glashütten im Taunus stehen unter dem hohen Baum, der allen im Dorf als Gottschalkfichte bekannt ist, vier gläserne Stelen. Sie sind Teil des sogenannten Waldglasweges, eines Lehrpfads zur Geschichte und Produktion des Werkstoffs Glas, der hier schon vor Jahrhunderten hergestellt wurde - und der plötzlich im Zentrum eines Gemeindestreits um einen ehemaligen Nazi-Richter und den Umgang mit den neuen Rechten steht.
Die Stelen bilden vom Waldweg aus ein durchaus verlockendes Ziel für Steinwürfe. Ines Nickchen, die Künstlerin, von der die Stelen stammen, glaubt aber nicht an jugendlichen Leichtsinn oder Vandalismus. "Welcher Jugendliche läuft erst eineinhalb Kilometer in den Wald, um Steine auf Glasscheiben zu werfen?" Den Waldglasweg hat sie gemeinsam mit der Dorfhistorikerin Ingrid Berg konzipiert. Laut eines Gutachtens, das nach der ersten Beschädigung des Kunstwerks verfasst wurde, soll eine der Stelen sogar mit einem Vorschlaghammer bearbeitet worden sein. Wer macht so etwas? Und warum?
Die Frage führt weit zurück, mehr als ein halbes Jahrhundert, in die Geschichte des Dorfes. Es geht um Manfred Roeder, einen Mann, der nach allen Maßstäben als Kriegsverbrecher gelten muss, und um eine kleine Gemeinde, die sich plötzlich wieder mit lange vergangen geglaubten Verbrechen des Nationalsozialismus konfrontiert sieht. Die Beschädigung der Kunst unter der Gottschalkfichte ist deshalb so ein heikles Thema im Dorf, weil genau hier der Konflikt begann, der inzwischen die Gemeinde spaltet.
Ines Nickchen stieß bei Recherchen auf "Hitlers Bluthund"
Die Gottschalk-Fichte hat ihren Namen, weil sich Franz Johann Gottschalk, der von 1956 bis 1979 amtierende Bürgermeister von Glashütten, hier gerne mit seinem Hund zurückgezogen haben soll, um eine Pfeife zu rauchen. Sagen manche. Andere sagen, er sei nie im Wald gewesen. Schon in diesem Fall gehen die Ansichten zur Geschichte des Dorfes auseinander. Heute stehen unter der hohen Fichte hölzerne Bänke, die vier gläsernen Stelen sowie seit 2015 das sogenannte Gottschalk-Schild, auf dem an die Taten des ehemaligen Bürgermeisters erinnert wird.
Ines Nickchen gefiel dieses Schild mitten in ihrer Kunstinstallation überhaupt nicht. Sie führt zur der Stelle auf dem Pfad, von der aus das Schild durch die Fichte verdeckt wird. "So kann man sehen, wie es eigentlich gedacht ist."
Nickchen und ihr Mann forschten nach, wer dieser Gottschalk war, dass man ihm als einzigem der Bürgermeister von Glashütten solch ein Denkmal setzte. Auf der Wikipedia-Seite zu Glashütten stießen sie auf wenig Informationen zu Gottschalk, fanden dafür aber einen Hinweis auf Manfred Roeder, der in Glashütten, während Gottschalk Bürgermeister war, als Jurist und teilweise als stellvertretender Bürgermeister in der Gemeindeverwaltung arbeitete. Auf Wikipedia heißt es: "Manfred Roeder (1900-1971), war ein deutscher Militärrichter zur Zeit des Nationalsozialismus, Ankläger der Widerstandsbewegung Rote Kapelle und wurde als Hitlers Bluthund bezeichnet." Hitlers Bluthund? Im beschaulichen Glashütten? Die Nickchens jedenfalls wussten davon nichts und forschten nach. Bei den Recherchen zu Roeder tut sich schnell ein Abgrund auf, der bis weit in die Geschichte der BRD hineinreicht.
Roeder war federführend in Prozessen gegen Widerstandskämpfer
Manfred Roeder ist nicht so bekannt wie Roland Freisler, der den Prozess gegen die Mitglieder der Weißen Rose geführt hat, aber Roeder verkehrte in den höchsten Nazikreisen und berichtete zeitweise an Göring persönlich, der viel von ihm gehalten haben soll. Er war federführend im Prozess gegen die Mitglieder der Widerstandsgruppe "Rote Kapelle" und gegen die Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi. Zum Prozess gegen die Mitglieder der "Roten Kapelle" wurde er abgestellt, da er, wie der Wissenschaftler Heinrich Grosse über Roeder schreibt, bekannt dafür war, dem Führer "das gewünschte Ergebnis" zu liefern.
Die "Rote Kapelle" war eine über Deutschland verstreute, lose Vereinigung von Künstlern und Intellektuellen um den Regierungsrat Arvid Harnack und den Luftwaffen-Leutnant Harro Schulze-Boysen. Sie suchten Kontakt zu ausländischen Nachrichtendiensten, halfen Verfolgten, verteilten Flugblätter und sammelten Beweise für die Morde an den Juden. Obwohl weder ideologisch noch anderweitig einheitlich organisiert, galt die Gruppe bis lange nach Kriegsende als kommunistische Zelle. Von Roeder wurde ihnen Spionage, Landesverrat und Wehrkraftzersetzung vorgeworfen.
In verschiedenen Quellen ist überliefert, wie brutal Roeder diesen Prozess führte. Grosse schreibt, dass die Verhafteten "verschärften Vernehmungen" durch die Gestapo unterzogen wurden. Was bedeutet, dass sie gefoltert wurden. Ein Angeklagter wurde beim Verhör erschlagen.
Die Urteile wurden hastig und brutal vollstreckt
"Roeder forderte wie am Fließband Todesstrafen", heißt es bei Grosse weiter. Selbst bei bloßen Mitwissern wie dem Schriftsteller Günter Weisenborn. "Eben komm ich nach 'Hause' in die Zelle und habe den Antrag auf Todesstrafe durch den Reichskriegsanwalt eben gehört. Nach einer Verhandlung von ½ Std., ohne dass ein Zeuge für mich gehört wurde", schrieb Weisenborn am 5. Februar 1943 an seine Frau Joy. Weisenborn kommt mit einer Gefängnisstrafe für das Nichtanzeigen einer Straftat davon. Von den 79 Angeklagten im Prozess um die "Rote Kapelle" wurden 45 zum Tode verurteilt. Die Urteile wurden hastig vollstreckt, am 19. Dezember 1942 waren sie gefällt worden, am 22. fanden die Hinrichtungen statt. Die Männer wurden mit Draht an Fleischerhaken erhängt, die Frauen mit einer Guillotine geköpft. Roeder überwachte die Hinrichtungen persönlich.
So jemand hat also in Glashütten, in einer kleinen Gemeinde mitten in der jungen Bundesrepublik, jahrelang unbehelligt direkt dem Bürgermeister zugearbeitet? Wie kann es sein, dass dieses Kapitel der Gemeindegeschichte kaum dokumentiert ist, dass die Gemeinde noch Jahrzehnte später diskutiert, wie mit dem ehemaligen NS-Richter in der eigenen Nachbarschaft umzugehen ist?
Denn Glashütten ist ein sehr geschichtsträchtiger Ort. Vor knapp 2 000 Jahren verlief hier im Wald der Limes, der Verteidigungswall, der die Grenze des römischen Reichs markierte. Moosbewachsene Erdhügel verraten noch, wo die Wachtürme der Anlange gestanden haben sollen. Knapp 1 500 Jahre später betrieben die Glasbläser, von denen Glashütten seinen Namen hat, hier ihre Öfen. In einer Senke im Wald zwischen hohen Bäumen sind die spätmittelalterlichen Fundamente davon noch erhalten.
Neu im Konflikt: Die Sorge um den Aufstieg der Rechtspopulisten
Warum also existiert keine Informationstafel zu Roeder, aber dafür zu jedem Detail des antiken Limes, zu einer Handvoll Glasöfen und zum Bürgermeister Gottschalk? Ines Nickchen meint, das Thema Roeder werde in der Gemeinde "weichgespült". Die einen fordern eine schonungslose Aufarbeitung, die anderen wollen mit der finsteren Geschichte lieber nicht zu viel zu tun haben. Ein wenig also so, wie es nahezu überall in Deutschland ist, wenn dieses Thema aufkommt. In Glashütten entfaltet sich im kleinen Maßstab der für dieses Land eingebürgerte Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus.
In den Konflikt mischt sich die Sorge um den Aufstieg der Rechtspopulisten. Wenn es schon Probleme gibt, mit der Geschichte eines ehemaligen Nazirichters, der hier vor einem halben Jahrhundert gelebt hat, einen angemessenen Umgang zu finden, wie soll man dann erst mit den Rechten umgehen, die wieder an die Macht drängen? Heute wird möglicherweise Kunst zerstört, und was folgt darauf?
Nach dem Krieg wurde mehrmals Anzeige gegen Roeder erstattet, unter anderem von Günther Weisenborn, wegen Körperverletzung, Aussageerpressung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Prozess begann vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth und wurde, nachdem Roeder nach Norddeutschland gezogen war, in Lüneburg fortgesetzt. Roeder wurde dann von allen Vorwürfen gegen ihn befreit, er bezog eine Pension als ehemaliger Generalrichter und hielt Vorträge über seine Ansichten zur "Roten Kapelle" bei Veranstaltungen der rechtsextremen "Sozialistischen Reichspartei". Das ist leider keine untypische Nachkriegskarriere für einen NS-Beamten.
Warum der ehemalige Richter dann 1963 nach Glashütten zog, ist unklar. Es gibt Vermutungen, dass er nach der Entführung Eichmanns durch den Mossad Angst hatte, wegen seines Vorgehens gegen die angeblich kommunistische "Rote Kapelle" von der Stasi oder dem russischen Geheimdienst entführt zu werden. Im Dorf kursieren viele Geschichten über Roeder, die nicht alle zu verifizieren sind.
Treffen mit der amtierenden Bürgermeisterin Brigitte Bannenberg und der Dorfhistorikerin Ingrid Berg im Rathaus von Glashütten. Bannenberg macht sich vor allem Sorgen um die Rechten und die Aufmerksamkeit, die sie heischen und bekommen. Sie sagt, sie wolle nicht, dass Glashütten zu einer Roeder-Pilgerstätte werde oder anderweitig als Vehikel benutzt. Der Junge, der vor ein paar Monaten von einem wohl psychisch kranken Asylbewerber im Frankfurter Hauptbahnhof vor einen einfahrenden Zug gestoßen wurde, stammte aus Glashütten. Die aktuelle politische Lage hat immer großen Einfluss auf den Umgang mit der Vergangenheit. Es ist eine Spaltung der Zivilgesellschaft, wie sie derzeit im Kleinen wie im Großen fast überall zu beobachten ist. Während die Gemeinde streitet, wie mit der Geschichte des Nazirichters umzugehen ist, stehen die neuen Rechten bereit, in die Bresche zu springen. Zur letzten Europawahl, berichtet Bannenberg, hatte schon die rechtsradikale Partei "Der III. Weg" scheinbar gezielt mit Plakaten in Glashütten geworben.
Die einen fordern Aufarbeitung, die anderen wollen damit nicht zu viel zu tun haben
Inzwischen findet sich auf der Homepage der Gemeinde ein Hinweis auf Roeders Zeit in Glashütten. Die Dorfhistorikerin Ingrid Berg schrieb außerdem einen Aufsatz, in dem die Aktivitäten Roeders in der Gemeinde dokumentiert und aufgearbeitet werden sollten. Für ihre archäologische Arbeit an den Glasöfen und anderen historischen Tätigkeiten war sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Roeder hatte sie nie persönlich getroffen. Sie lobt im Gespräch, was der Bürgermeister Gottschalk doch alles für den Ort getan habe. Und Roeder sei damals als Rechtsexperte in die Gemeindeverwaltung geholt worden. "Es war sonst niemand mit juristischem Sachverstand bereit, ehrenamtlich in der Gemeinde mitzuhelfen." Ausgerechnet dieser Aufsatz hat den Konflikt in der Gemeinde um die Aufarbeitung des nationalsozialistischen Erbes aber nur noch weiter angefacht.
Denn gegen die Aufarbeitungsversuche der Gemeinde werden schwere Vorwürfe erhoben. Berg zitiere irreführend und unterschlage in ihrem Aufsatz wichtige Informationen wie Roeders Mitgliedschaft in der SA. Auch zu seiner Rolle im Prozess gegen Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer finde sich in dem Artikel kein Wort. Das meinen manche mit "weichgespült". Berg und Nickchen haben sich, trotz der gemeinsamen Arbeit am Waldglasweg, deswegen nichts mehr zu sagen. Die Risse gehen quer durchs Dorf, und das Thema zieht inzwischen Kreise bis nach Berlin: Johannes Tuchel, Professor für Geschichte an der Freien Universität Berlin und Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, hat sich eingeschaltet und eine ausführliche Gegendarstellung zu dem Artikel von Ingrid Berg verfasst. Berg meint dazu, Details wie Roeders SA-Mitgliedschaft seien gar nicht Thema des Artikels gewesen, der den Titel "Kommunalpolitik mit NS-Vergangenheit?" trägt.
Dabei sollte genau das ein Thema sein. Warum fällt die Aufarbeitung oft so schwer? Es scheint, als sei nicht nur die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, sondern auch, als seien die Jahrzehnte danach eine Art blinder Fleck in vielen deutschen Gemeinden. Denn solche wie Roeder gab es mit Sicherheit nicht nur in Glashütten. Und ihre Spuren sind durchaus ohne große Recherchen auffindbar.
Das Archiv in Glashütten ist ein zwei Stockwerke hoher Raum im Untergeschoss des Rathauses. Ingrid Berg hat zwei Ordner bereitgelegt mit Dokumenten aus der Zeit, in der Roeder und Gottschalk aktiv waren. Sie belegen, wie viel Roeder in der Gemeinde mitgearbeitet hat. Es sind an ihn ausgestellte Vollmachten, sowie Briefe und juristische Schriftsätze aus seiner Feder erhalten. Er scheint in vielen Fällen die Geschäfte der Gemeinde geführt zu haben. Im Personalbogen wird er als "Generalrichter a.D." geführt. Seine Vergangenheit kann in Glashütten kein Geheimnis gewesen sein.
Gegen die nur schwachen Aufarbeitungsversuche werden nun schwere Vorwürfe erhoben
In einer E-Mail betont Berg noch einmal: "In der Kommunalpolitik unter Bürgermeister Gottschalk lassen sich keine Hinweise auf nationalsozialistisches Gedankengut oder nationalsozialistische Beeinflussung des Manfred Roeder finden." Auch Bürgermeister Gottschalk fiel, soweit bekannt, nicht durch nationalsozialistisches Gedankengut auf. Einen ehemaligen, als Nazi bekannten Richter beschäftigte er trotzdem in der Gemeinde. Bereits 1968 war allerdings im Spiegel ein Artikel über Roeders Tätigkeiten während des Krieges erschienen. An der politischen Gesinnung Roeders auch nach dem Krieg kann es aus den historischen Fakten keinen Zweifel geben. Seine Vorträge vor dezidiertem Publikum belegen das. Man hätte also alles wissen können. Der Konflikt läuft auf die Frage zu, was mehr wiegt: Das Ansehen des Bürgermeisters Gottschalk und seines Beraters Roeder oder die Aufarbeitung des Wirkens eines Kriegsverbrechers in der deutschen Kommunalpolitik?
Man hätte alles wissen können, wenn man gewollt hätte
Bürgermeisterin Bannenberg äußerst sich dazu deutlich: "Mir geht es darum, dass wir aufarbeiten, was hier im Archiv ist und dass das in einen Zusammenhang mit der Geschichte Roeders gestellt wird. Roeder hat hier ab Ende 1963 gelebt, er hat in der NS-Zeit schlimmste Verbrechen begangen, und unser aller Aufgabe ist es nun, einen guten Weg zu finden, in der Öffentlichkeit damit umzugehen." Wie das aussehen könnte? Mehr öffentlich zugängliche Informationen? Podiumsdiskussionen? Das wären für Frau Bannenberg alles nächste Schritte. "Es gab auch Anfragen, ob man in Glashütten nicht Gedenkstätten bräuchte, wie die Stolpersteine in anderen Städten. Ich hätte da im Prinzip nichts dagegen aber diese Gedenkstätten findet man doch eher an den Wohnorten der Opfer, an den Orten der Verbrechen und dort wo die Prozesse stattfanden."
Manche Bürger in Glashütten wie Ines Nickchen fordern sehr vehement eine solche Gedenkstätte in Glashütten und eine Aufarbeitung der Geschichte Roeders ohne Kompromisse. Andere scheinen das Thema des Nazi-Richters in ihrem Dorf nicht gerne zu hören. Mit dem nationalsozialistischen Gedankengut, dem Roeder anhing, sympathisiert niemand offen, aber dazu, wie mit dem historischen Erbe umzugehen ist, gibt es sehr unterschiedliche öffentliche Meinungen. Die Frage, die sich in Glashütten stellt, ist die, ob und wie Aufarbeitung je ausreichend sein kann. Oder ob sich jede Generation diesem Thema von neuem stellen muss. Gerade jetzt, wenn jede Nische sonst sofort von der neuen alten Rechten besetzt wird.