Pop und Zensur:Die Scham und die Sitte

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Gisela Jonas, die "Schwabinger Gisela", Sängerin und Wirtin in der Bar "Bei Gisela". (Foto: Fotoarchiv Otfried Schmidt)
  • Am 26. Februar 1960 wurden die Schallplatten der Münchner Kleinkünstlerin Gisela Jonas mit dem Titel "Aber der Novak" indiziert und in Plattengeschäften beschlagnahmt.
  • Ihre Liedtexte handelten von Sex - sie klagte über "Routine im Bett" und sang über Homosexualität, als die noch unter Strafe stand.
  • Gisela Jonas betrieb in der Münchner Occamstraße einen Ausschank mit Musik und Tanz.

Von Willi Winkler

Die Sittenpolizei wusste Bescheid und nutzte das Morgengrauen, von dem die Gisela so eindrucksvoll geraunt hatte. Alle im Hause vorrätigen Schallplatten waren abzuliefern, Anordnung des Amtsgerichts München, und zwar sofort. Gleichzeitig wurden am 26. Februar vor sechzig Jahren in einer "schlagartigen Aktion" alle Tonträger mit dem Titel "... bei Gisela" in allen Plattengeschäften Münchens einkassiert.

Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften folgte der Vorgabe, legte ihre Satzung weitherzig aus und indizierte 1960 zum ersten Mal eine Schallplatte, weil Gefahr drohte, dass der "Inhalt der Platte Jugendlichen durch Vorspielen zugänglich gemacht" würde.

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Der Inhalt? War sonderschlimm, angeblich der "gefährliche und in geschlechtlicher Hinsicht ordinäre und schamverletzende Gesang einer Dirne". Dieses Urteil war weder juristisch noch literaturwissenschaftlich haltbar, denn gesungen hat den Gesang "Morgengrauen" keine Dirne, sondern die 31-jährige Gisela Jonas, Folkwang-Schülerin, Nebendarstellerin im Film ("Rosenresli") und die größte Kleinkünstlerin, die es vor sechzig Jahren in München gab.

Bewehrt mit der Hausfrauenfrisur der gleichaltrigen Marianne Strauß, mit Zigarette im Mundwinkel und nachtblauer Stimme sang die Kneipenwirtin gegen die Sperrstunde ihre Lieder, sang vom Novak, der "lässt mich nicht verkommen", reimte (mit Hilfe ihres Texters Alexander Gorski) "sinnliche Touren" auf "handfeste Huren", machte zeitgemäße Anspielungen auf die Adenauer'sche Anstandswauwine Erica Pappritz oder den Sex-Report von Alfred Kinsey, wusste, dass bei all den "Atomversuchen" nur "Eunuchen" herauskämen, und rettete damit ganz allein den Ruf Schwabings als Sündenpfuhl des sonst nicht so wahnsinnig freien Westens.

Selbst in den Fünfzigern des vorigen Jahrhunderts war Schwabing schon ziemlich démodé. Die Emigranten waren nicht zurückgekehrt, Erich Kästner saß ein paar Wirtschaften weiter und soff sich den letzten Witz weg. Koks war noch nicht wieder modern geworden; selbst der aus Paris angereiste Chef der anarchistischen Situationisten trank seine Maß ganz bodenständig im Hofbräuhaus.

Die Klage über pflichtschuldiges Stöhnen bei der "Routine im Bett" war zu ordinär

Scham, erst recht ihre Verletzung, war in der damals fundamentalkatholischen Landeshauptstadt eine ernste Angelegenheit. München war nicht Berlin, aber in Schwabing gab es diese aus Moers hereinmigrierte Chansonette, die in ihren Couplets so anzüglich wurde, wie's die vorgerückte Stunde erlaubte: "Der Novak liebt mich nicht im Kalten,/Sein Thermometer musst' ich halten". Hier vernahm man die die Klage über das pflichtschuldige Stöhnen bei der "Routine im Bett". So ging das schon seit 1952, seit die Gisela ihren Ausschank in der Occamstraße eröffnet hatte.

Das hörten die durchreisenden Filmstars, die klatschbekannten Busenwunder und Playboys gern und lachten genauso wie die ortsansässige politische Klasse, die sich ihren eigenen Reim machte, wenn sie von besonderen Kunden erzählte, dem "Five-o'clock-Flagellanten" zum Beispiel, "seine Striemen bekommt er von mir". Bis dahin hatte sich niemand daran gestört, dass sie offen von Homosexualität sprach, auf die immer noch Zuchthaus stand, und selbstbewusst mit den eigenen Bedürfnissen umging. "Was eventuell mich noch reizen kann,/ist ein richtiger Mann,/weil man's braucht dann und wann". Schön und gut verrucht war das, aber doch nicht fürs Volk draußen, auf einer Single!

Aber so war die gute alte Zeit: In einer Klemmprosa, mit der heute sogar ein Last-Minute-Repetitorium in Verwaltungsrecht zu amüsieren wäre, hatte der Bundesgerichtshof im Jahr zuvor von der "Geschlechtsbegegnung der Menschen" schwadroniert, vor der die "Augen Unberufener ferngehalten" werden müssten. Mit dem Urteil Az. 1 StR 562/58 BGH wurde die öffentliche Aufstellung von Kondomautomaten verboten, weil deren Anblick "namentlich bei Kindern und Jugendlichen alle Begriffe von Sitte und Anstand hoffnungslos verwirren" würde.

Bei der Gisela war die Verwirrung um Sitte und Anstand offenbar so verwirrend, dass Polizei und Staatsanwalt zum Äußersten schreiten mussten. Ein Richter immerhin war's, der die Zunft rettete, weil er ihr attestierte, sie sei eine "gebildete Dame", wenn auch "mit stark unzüchtigem Charakter". Irgendwann zog die Gisela fort aus Schwabing. 2014 ist sie schamlos gestorben.

© SZ vom 26.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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