Gerhard Roth:Archivar der Abgründe

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Blickte den autoritären Prägungen auf den Grund, die Österreich zum willigen Mittäter der deutschen Nazis gemacht und die den Krieg durchaus überlebt hatten: Gerhard Roth. (Foto: Philipp Horak/picture alliance / dpa)

Manchmal schrieb er österreichische Heimatliteratur, im bestmöglichen Sinne des Wortes: Zum Tod des Schriftstellers Gerhard Roth.

Von Kurt Kister

"So lange ich denken kann, zog mich das Unglück an - der Tod, der Selbstmord, das Verbrechen, der Hass, der Wahnsinn." So beginnt "Orkus", ein Buch, das 2011 erschien, und in dem Gerhard Roth über die Welt, in der wir leben, schreibt, aber auch und vor allem über die Welt, in der Roth lebte, die nicht unbedingt und stets deckungsgleich war mit der Realität. (Niemand, notabene, dem oder der die Fantasie nicht wichtiger ist als die messbare Wirklichkeit, kann Schriftsteller oder Literatin sein.) In "Orkus" vermischt sich die Tatsächlichkeit mit der Wirklichkeit im Kopf des Schriftstellers, Skizzen über Kafka, Camus oder Qualtinger wechseln sich ab mit autobiografischen Erzählungen, in denen gelegentlich Menschen und Dinge vorkommen, die es im landläufigen Sinne nicht gibt. Vier Jahre vor "Orkus" war "Das Alphabet der Zeit" erschienen, in dem Roth über seine Kindheit und Jugend erzählt. Beide Bücher sind beispielgebend für autobiografisches Schreiben, für Schreiben überhaupt.

Gerhard Roth, in Graz geboren, ist jetzt im Alter von 79 Jahren gestorben. Er war einer jener österreichischen Geistesmenschen, die so sehr an Österreich leiden, dass sie, bewusst oder unbewusst, stets dazu beitragen wollen, dieses seltsame Land besser, erträglicher, liebenswerter zu machen - aber erst, nachdem sie in seine Abgründe geblickt und diese öffentlich gemacht haben. Ein Beweis dafür ist Roths ebenso gewaltiger wie kleinteiliger Zyklus "Die Archive des Schweigens", sieben Bände, an denen Roth gut 15 Jahre lang bis 1991 arbeitete. In Obergreith, einem kleinen Dorf in der Steiermark, lebte Roth zwischen 1977 und 1986 in, wie man so schön sagt, einfachen Verhältnissen, also zunächst ohne fließendes Wasser und mit Plumpsklo. Er sammelte Geschichten, Weltanschauungen, Bilder, nicht nur, aber auch, weil er jenen autoritären Prägungen auf den Grund blickten wollte, die Österreich zum willigen Mittäter der deutschen Nazis gemacht und die den Krieg durchaus überlebt hatten. Roth wurde in Obergreith aber auch mit der Zeit Teil des "normalen" Dorflebens. Dies alles, die Abgründe und der Alltag, spiegeln sich in dem grandiosen Roman "Landläufiger Tod" von 1984 wider, der in der Mitte der "Archive des Schweigens" steht. Es ist vor allem die Geschichte des stummen Franz Lindner, Sohn eines Imkers, der in eine psychiatrische Anstalt gerät, wo er das Leben in Geschichten zerlegt, Geschichten allerdings, die auch sein Leben zerlegen.

Roth war ein unerbittlicher Kommentator der österreichischen Gegenwart - aus Liebe

Während die "Archive des Schweigens" zuvörderst Protokolle, Analysen, Erzählungen, manchmal Vivisektionen österreichischer Dinge und Gemütszustände sind, greift Roths zweiter Zyklus weiter aus. Seine beiden Schlussbände sind die autobiografischen, "Orkus" und "Das Alphabet der Zeit". Wie den letzten Band hat Roth auch den achtteiligen Zyklus "Orkus" genannt. Er lehnt sich in der Struktur an den "Ulysses" von Joyce an, der sich wiederum an Homers "Odyssee" angelehnt hat. Und er ist eine, Roth-Leser würden sagen, logische Fortsetzung des ersten, siebenbändigen Zyklus' "Die Archive des Schweigens". War der erste Zyklus im bestmöglichen Sinne des Wortes österreichische Heimatliteratur, so sind im zweiten Zyklus Reisen nach Ägypten, Japan oder zum Berg Athos Vorder- und Hintergrund manchmal geheimnisvoller, gefährlicher Geschichten. Ihre Protagonisten geraten zumeist in Zusammenhänge jenseits ihrer Kontrolle, hin und wieder jenseits ihres Verstandes.

Roths Vater war Arzt, und er wollte, dass auch sein Sohn Arzt wird (das scheinen Ärzteväter so an sich zu haben). Das Medizinstudium allerdings brach der Sohn ab, er verdiente von 1966 an den Lebensunterhalt für seine Familie als Angestellter in einem Grazer Rechenzentrum. Mitte der Sechzigerjahre war dies noch eine eher exotische Tätigkeit. Sein erstes Buch erschien 1972, eine Art Roman mit dem Titel "die autobiografie des albert einstein", alles klein geschrieben, das die Gedanken eines Menschen wiedergab, der sich für Einstein hielt und solche Sätze sagte: "ich verharre hier wie eine mikrobe, den mantelkragen voller haare". Man nannte das damals Experimentalliteratur. Zum Glück für Roth und seine spätere Leserschaft emanzipierte sich der Autor von dieser Phase.

Gerhard Roth war ein Vielschreiber und ein Vielreisender; seine jüngsten Bücher, eine Trilogie, spielen in Venedig und handeln von Souffleuren und Kunsthistorikerinnen, die mit Verbrechen und moderatem Wahnsinn konfrontiert werden. Roth war auch ein manchmal nahezu unerbittlicher Kommentator der österreichischen Gegenwart. Er legte sich mit den üblichen Verdächtigen aus ÖVP und FPÖ gerne an. Das hatte wohl auch mit seiner dann doch wieder tiefen Liebe zu Österreich zu tun. Allerdings war er alles andere als der klassische nörgelnde Intellektuelle; Thomas Bernhard verhöhnte ihn mal wegen seiner verehrungsähnlichen Haltung zu Bruno Kreisky.

Im persönlichen Umgang war Gerhard Roth ein zurückhaltender, bisweilen sogar heiterer Mensch, der gerne Geschichten erzählte und hörte. Seine Liebe zu seiner schwierigen Heimat kann man nicht nur in seinen Büchern erlesen; sie ist auch manifest geworden im Kulturhaus von St. Ulrich in Greith in der Steiermark. Roth hatte die Idee, in seiner Heimat ein Kulturhaus zu gründen, und setzte sich sehr für Bau und Betrieb des Greith-Hauses ein, das 2000 eröffnet wurde. Im tiefen Österreich zeigt das Haus seitdem, wie man Abgründe schließen kann.

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