Ende der Buchmesse:Welterklärer mit Direktzugang zum Herzen

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Der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado und Wim Wenderws umarmen sich in Frankfurt am Main. (Foto: Thomas Lohnes/Getty Images)

Sebastião Salgado erhält den Friedenspreis, fünf Starautoren sprechen über so ziemlich alle Probleme des Planeten. Ist das das neue Erfolgsrezept der Literatur?

Von Marie Schmidt

Sebastião Salgado erzählte die Stationen seines Arbeitslebens nach. Das heißt, er ließ einen Katalog der Weltkonflikte, des Leidens, der Vertreibung und Angst, des Krieges und der Zerstörung auf die Sonntagsgemeinde niederdonnern. Zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels versammelt sich ja jedes Jahr zum Ende der Buchmesse ein feiner Querschnitt der nationalen Öffentlichkeit, Schriftstellerinnen, Diplomaten, Wissenschaftler, Politiker.

Mitten in dieses Publikum imaginierte Salgado, als er sich für den Friedenspreis bedankte, "eine riesige Armee von Migranten und Verbannten, von ausgebeuteten Arbeiterinnen und Arbeitern, von Opfern von Krieg und Genozid. Es sind die Betroffenen von Hungersnöten, Klimawandel und Abholzung". Vorne in der Paulskirche hing Salgados ikonisches Bild von den Arbeitern einer brasilianischen Goldmine, die zu Hunderten ans Tageslicht klettern. Vor dem inneren Auge überlagerte sich das Bild der Verdammten dieser Erde, von denen Salgado redete, mit den Ameisengleichen auf dem Foto. Er nehme diesen Preis nicht für sich, sondern "mit ihnen" an, sagte Salgado, der ihn als erster Fotograf bekommt.

Zum Nachlesen
:Peter Handkes Reisebericht "Gerechtigkeit für Serbien": Teil II

Auslöser der Diskussion über den Literaturnobelpreisträger war der Text "Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien", der 1996 in der SZ erschienen ist. Hier das Original.

Damit endete eine Buchmessenwoche, deren Hauptthema der andere Preisträger, Peter Handke, gewesen war. In dem Zusammenhang war es womöglich kein Zufall, dass Salgado ganz zum Schluss seiner Rede noch eine Szene aus dem Balkankrieg erzählte. Von einer Gruppe Flüchtlinge, die von einer deutschen NGO aus dem Bürgerkriegsgebiet gerettet worden war und in provisorischen Behausungen an der bosnisch-serbischen Grenze zusah, wie ihre Landsleute nach Deutschland flohen, während sie als gerettet galten und nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden. Genau in diesem Moment, in diesem Krieg, über dessen gerechte Darstellung wegen des Nobelpreises an Peter Handke wieder gestritten wird, will Salgado der Verdacht gekommen sein, "dass es tief im Inneren nicht unsere natürlichste Neigung war, einander zu lieben, sondern einander zu töten".

Sein Ton, sein Pathos, das Schicksal der Menschheit und seine eigene Ergriffenheit wirkten. Das Publikum schluckte und schnäuzte. Da war also noch mal der hohe Ton, da ging es um etwas, während die Gespräche über die Handke-Angelegenheit im Laufe der Tage ziemlich abgeschlafft waren. Zumal da vieles durcheinander geriet: Ging es darum, was Peter Handke geschrieben oder verharmlost hat? Um die Rückkehr der Balkankonflikte in die kollektive Erinnerung? Darum, dass wir alle zu wenig Handke gelesen haben (allseits Zustimmung)? Darüber, wie Handke einmal seine Frau getreten hat? Warum beim Kritikerempfang des Handke-Verlags Suhrkamp kein Toast auf den Nobelpreisträger gesprochen wurde? Wollten nicht alle lieber über und mit dem neuen Buchpreisträger Saša Stanišić reden? Oder möglichst allgemein über die Frage, was Moral und Politik in der Kunst zu suchen haben?

Je politischer, desto besser?

Am Wochenende, als die meisten professionellen Meinungsinhaber in dieser Sache bereits abgereist waren, öffnete sich die Buchmesse für die Öffentlichkeit. Für die gab es dieses Jahr zum ersten Mal eine "Literaturgala" genannte Veranstaltung mit fünf Weltstars auf einer Bühne. Wobei man dann erleben konnte, wie der Politisierung der Literatur ganz unverkrampft applaudiert wird. Sich ideell einnorden zu lassen gehört, was die populäre Literatur betrifft, offenbar zum Genuss am Lesen. Die Moderatoren Bärbel Schäfer und Thomas Böhm fragten Schriftstellerinnen und Schriftsteller fröhlich routiniert als Botschafter je einer guten Sache ab: Die in London lebende türkische Autorin Elif Shafak über die Marginalisierung von Frauen und Transgenderpersonen in autoritären Systemen, Colson Whitehead über Rassismus und Segregation in den USA, Maja Lunde über Artensterben und Klimawandel, Ken Follett über den Brexit und Europa, Margaret Atwood über Frauenrechte.

Aus einem Portfolio bestverkäuflicher Bücher wurde eine Revue der Weltprobleme. Aber was kann die Literatur gegen diese ausrichten, wurde die Norwegerin Maja Lunde ("Die Geschichte der Bienen") gefragt. Die Welt sei in einem schlechten Zustand, sagte sie, wir haben das aber nicht genug verinnerlicht. Literatur verschaffe einen Direktzugang zu den Herzen der Leute, teile die wichtigen Botschaften durch Gefühle mit. Und Ken Follett sagte: "Ich schreibe über Menschen in Gefahr und Menschen, die sich verlieben, das wird überall verstanden."

Dafür, dass es um alles geht, ist die "Gala" erstaunlich steril

Während Intellektuelle sich über die Trennung von Engagement und Ästhetik, Werk und Autor in die Haare kriegen, stehen offenbar gerade in der gelesenen Literatur die literarischen Verfahren ohne Probleme im Dienst gesellschaftlicher Anliegen. Man könnte das auch Ideologie nennen, die aber niemanden stört, solange es um die größten Dinge geht: Freiheit, Gleichberechtigung, Weltrettung. Nur warum ist diese "Gala" dann so eine sterile Angelegenheit, fragte man sich inmitten der Fans, die geduldig Handyfotos von ihren Idolen auf der fernen Bühne anfertigten. Unweigerlich fielen einem ein paar alte Sätze von Susan Sontag wieder ein, der Friedenspreisträgerin des Jahres 2003. Die hatte gegen Sebastião Salgado, den Friedenspreisträger 2019, den Vorwurf des höheren Eskapismus erhoben: An Gegenständen von solcher Größenordnung, schrieb sie, mühe sich das menschliche Mitgefühl unheimlich ab, und alles werde abstrakt.

Solcher Kritik entrückte ihn Wim Wenders endgültig, der als Regisseur die Dokumentation "Das Salz der Erde" über Salgado gedreht hat und die Laudatio zum Friedenspreis hielt. Er beschrieb den Fotografen als messianische Figur: Sein Werk sei das Ergebnis eines Opfers, nämlich der Lebenszeit, die der Fotograf damit verbracht habe, wobei er "tief in das Herz der Dunkelheit" schauen musste. Andererseits verdanke es sich einer Gnade: Es sei "eine großzügige Geste unserer Erde, ihren Schleier zu heben und sich zu erkennen zu geben". Und Salgado lasse genau das "teilnehmend spüren", was heute dem Frieden entgegenstehe: "der brutale Niedergang des Mitgefühls, der Mitverantwortung, des Gemeinsinns".

© SZ vom 21.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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