Bei der offiziellen Eröffnung der Frankfurter Buchmesse erzählte die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie, bevor sie schon wieder zum Flieger musste, um in London einen Preis entgegenzunehmen, eine Geschichte: Als Kind habe sie mit ihrer Familie sonntags stets den Gottesdienst in der St. Peter's Chapel auf dem Universitätsgelände der nigerianischen Stadt Nsukka besucht, in offener und progressiver Atmosphäre.
Viele Jahre später, als sie schon in die USA ausgewandert war und zu einem Familienbesuch zurückkehrte, wurde ihr der Eintritt zur Kirche von einem als Kontrolleur vor der Tür aufgestellten jungen Mann verwehrt: Die Ärmel ihres Kleides seien zu kurz, sie möge sich bitte eine Stola umlegen. Dies sei, so Adichie, ein symbolisches Erlebnis gewesen: Ihr Kindheitsort habe sich verwandelt in einen Ort, an dem Frauen kontrolliert würden, um Männer vor sich selbst zu schützen. Die Haltung dahinter sei universell: "Wir sehen das überall", sagte Adichie: im Nahen Osten, wo Frauen vorgeschrieben werde, was sie zu tragen haben; im Westen, wo Frauen als reine Sexualobjekte fungierten.
Die kurze, eindringliche Rede der 1977 geborenen Chimamanda Ngozi Adichie, die heute in den USA und in Nigeria gleichermaßen zu Hause ist und mit ihrem Roman "Americanah" weltberühmt geworden ist, wurde in Frankfurt mit Beifall aufgenommen. In einer Phase, in der die Ratlosigkeit angesichts sinkender Buchverkaufszahlen mit Händen zu greifen ist, war sie ein Paradebeispiel dafür, wie Literatur und das Sprechen darüber Bedeutung und Relevanz erlangen können.
"Es ist an der Zeit, beim Geschichtenerzählen Mut zu zeigen"
Dass ausgerechnet Adichie den ersten thematischen Schwerpunkt der Messe setzen durfte, hatte mit dem Umstand zu tun, dass der afrikanische Kontinent und dessen Diskurse schon seit Langem nicht mehr abgetrennt von den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der westlichen Welt betrachtet werden können. Auch auf der Buchmesse wächst die Zahl der afrikanischen Aussteller stetig: 2018 präsentieren sich 34 Verlage aus 19 afrikanischen Ländern in Frankfurt. Auf der Bühne "Lettres d'Afrique: Changing the Narrative" werden während der Messetage Themen wie Postkolonialismus und Feminismus besprochen.
Der von der Schriftstellerin Taiye Selasi erfundene Begriff des "Afropolitanism" beschreibt exakt diese Ausweitung afrikanischer Identität in transkontinentale Erfahrungen, für die auch Chimamanda Ngozi Adichie steht und die auffallend weiblich ist.
Adichies Auftritt verlieh auch dem von der Buchmesse als neues Zentrum des Messegeländes installierten "Frankfurt Pavillon" die weltläufige Eleganz, auf die sie offenkundig aus ist. Wenngleich die luftige, vom Architekturbüro Schneider + Schumacher entworfene, muschelähnliche Konstruktion in ihrem blendenden Weiß und der Sperrholzregalästhetik im Inneren auf den ersten Blick zunächst wenig Glamour, sondern eher eine kühle Strenge vermittelt.
Vor Chimamanda Ngozi Adichie hatten sich Börsenvereins-Vorsteher Heinrich Riethmüller und Buchmessendirektor Jürgen Boos alle Mühe gegeben, dem Krisengefühl der Branche demonstrative Aufbruchsstimmung entgegenzusetzen. Das Jahr 2018, so Riethmüller, markiere eine Zäsur. Angestoßen durch die im Juni veröffentlichte Studie, die einen dramatischen Schwund der Buchkäufer um mehr als sechs Millionen seit 2013 offenbart hatte, sei man jetzt bereit, sich intensiv mit den Kunden und deren Bedürfnissen auseinanderzusetzen. Darüber, wie genau das geschehen soll, hört man bislang vom Börsenverein allerdings überwiegend Durchhalteparolen: "Die Buchbranche", sagt Riethmüller, "ist größer als die Film-, Musik- und Gamesbranche zusammen."
Jürgen Boos wiederum zeigte sich besorgt darüber, wie "die permanente Hysterie und das steigende Erregungsniveau unser Zusammenleben verrohen lassen". Die 70. Frankfurter Buchmesse hat anlässlich des 70. Jahrestags der Unterzeichnung der UN-Menschenrechtscharta gemeinsam mit der UN und Amnesty International die Kampagne "On The Same Page" initiiert; ein Aktionsbündnis, das zahlreiche Veranstaltungen während der Messetage verantwortet.
Daran anschließend betonte Chimamanda Ngozi Adichie die Verantwortung von Schriftstellern in einer Zeit, in der "das mächtigste Land der Erde in Dunkelheit versunken" sei: "Es ist an der Zeit, beim Geschichtenerzählen Mut zu zeigen. Es ist an der Zeit zu sagen, dass wirtschaftliche Überlegenheit nicht moralische Überlegenheit bedeutet. Es ist an der Zeit für Männer, Bücher von Frauen zu lesen." In Nigeria, so Adichie, habe man kein Problem mit ihren Büchern, sondern mit ihrer Haltung als Bürgerin, als die sie sich in politische Diskurse einbringe. Der Abschluss ihrer Rede allerdings ließe sich ohne Schwierigkeiten auf die Situation des Buchmarkts in Deutschland beziehen: Adichie plädierte für eine Ausweitung der Definition von Nützlichkeit: "Ich lese, um getröstet zu werden. Und um an Liebe, Schönheit und Leid erinnert zu werden. All das ist nützlich." Mit dieser Selbstvergewisserung und Adichies Plädoyer für die Einmischung hatte die Frankfurter Buchmesse 2018 tatsächlich einen ersten Höhepunkt.