Fünf Favoriten der Woche:Im Sternenmeer

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Eleganz, Virtuosität, Anmut: Ein Buch über Fußball von Olivier Guez. (Foto: Editions observatoire)

Fußball als Kunst, Michael Caine als Agent, eine U-Bahn-Station als Design-Objekt und ein Album von Franco Battiato und eine Kinderwelt im Jüdischen Museum

Von SZ-Autorinnen und SZ-Autoren

Absurde Leidenschaft

Kunstbetrachtungen sind oft dann am besten, wenn sie im engeren Sinne gar keine Kunst zum Gegenstand haben. Der französische Schriftsteller Olivier Guez zum Beispiel, vor allem bekannt als Autor des fantastischen Films "Der Staat gegen Fritz Bauer" und des Romans "Das Verschwinden des Joseph Mengele", hat in französischen Zeitungen immer auch Essays und Reportagen über Fußball geschrieben. Diese Texte sind in Frankreich jetzt unter dem Titel "Une passion absurde et dévorante" erschienen und sie gehören zum Besten, was es über ästhetisches Erleben gerade so zu lesen gibt. Guez schreibt über den sowjetischen Torhüter Lew Jaschin mit derselben Hingabe und Herzensbildung wie der legendäre Kunstkritiker Julius Meier-Graefe über Goya. Während die oberen Gesellschaftsschichten in Deutschland und England eine gewisse Übung darin haben, sich im Fußballstadion sehen lassen, ist diese Verbindung aus Intellekt und Massenkultur in Frankreich noch relativ frisch. Das hat unter anderem damit zu tun, dass Fußball dort jahrzehntelang so gut wie keine Rolle gespielt hat. Bis zum Weltmeistertitel 1988 wussten viele Franzosen, Michel Platini und Eric Cantona zum Trotz, nicht einmal, dass sie überhaupt eine Nationalmannschaft hatten und schauten lieber Rugby. Guez erzählt an einer Stelle, wie er im Oktober 2019 einmal im Prinzenpark, dem Stadion von Paris Saint-Germain, in der Loge von Kamel Mennour zu Gast war, einem renommierten Pariser Galeristen, der trotzdem Fußball liebt. Zwischen Guez und Mennour, dem Schriftsteller und dem Galeristen, entspinnt sich dann ein Gespräch, wie sie in Frankreich sonst vor allem in den Theaterszenen bei Balzac geführt werden: Es geht um den Künstler Philippe Parreno, der in der Loge direkt hinter ihnen sitzt, um Maradona und Zidane - der eine ein Genie, der andere eher ein Demiurg -, um Virtuosität, Eleganz und Anmut. Das Fußballstadion sei das letzte wirklich egalitäre Feld, sagt Mennour, hier gebe es weder Status noch Uniform, auch deshalb lade er Museumsdirektoren so gern hierher ein. Guez betrachtet Fußball eher als universelle Sprache, die über die kostbare Fähigkeit verfügt, Solidarität über die Grenzen des eigenen Clans, des eigenen Dorfes, der eigenen Nation herzustellen, und die Lager zu versöhnen, die sich gerade in Frankreich derzeit wieder gegenseitig leidenschaftlich an die Gurgel gehen. Es kommt wirklich selten vor, dass ein europäischer Autor die Massenkultur so schillernd gegen das dünkelhafte Geschmäcklertum verteidigt wie Olivier Guez hier. Felix Stephan

Agenten bei der Arbeit im sehr kalten Krieg: Karl Malden und Michael Caine (als Harry Palmer) in "Das Miliarden Dollar Gehirn". (Foto: OBS/OBS)

Michel Caine als Harry Palmer

Harry Palmers Comeback im Agentengeschäft, Michael Caine spielt ihn zum dritten Mal, im Film "Das Milliarden-Dollar-Gehirn" (auf DVD, Explosive Media): Er war als Privatdetektiv tätig, hat miese Beweisfotos für Scheidungsfälle geknipst. Als Agenten begegnen wir ihm in Helsinki, in weiter Schneelandschaft. Ein texanischer Milliardär-General will den Weltkrieg Nummer drei, den endgültigen, gegen den Kommunismus anzetteln. Das Palmer-Girl ist Françoise Dorléac, Deneuves Schwester. Harry Saltzman hat den Film produziert, zwischen seinen frühen Bond-Filmen, wohl wissend, wie parodieaffin das Genre ist. Am Ende dreht Regisseur Ken Russell, der später Tschaikowsky, Mahler, Liszt zu durchgeknallten Kinohelden machte, furios auf und versenkt eine Flotte Tanklastwagen im Baltischen Meer, zu Schostakowitsch. Fritz Göttler

Das Nilpferd hat es auf die Arche geschafft: Anoha, die Kinderwelt des Jüdischen Museums Berlin. (Foto: Ralf Müller via www.imago-images.de/imago images/Photopress Müller)

Kinderwelt des Jüdischen Museums Berlin

Der Beirat, also: der Kinderbeirat, hat beispielsweise den Namen beigesteuert, Anoha, eine etwas vernuschelte Variante der "Arche Noah". Unter dem herrlich brutalistisch geschwungenen Betondach der Blumengroßmarkthalle ist die Kinderwelt des Jüdischen Museums Berlin nämlich - eben dies, ein Bagel-rundes Riesenschiff aus heller Fichte. Bevölkert wird die untergehende und gerettete Welt von 150 Upcycling-Wesen aus den Ateliers von Berliner Künstlern, die zeitgemäßerweise nicht paarweise auftreten, sondern einzeln. Dafür sind einige Tierarten wie etwa das drei Meter große Mammut eigentlich schon ausgestorben. Fehlten ein Jahr lang nur noch die Kinder, denn Anoha hätte, wie so vieles längst, eröffnen sollen.

Seit ein paar Tagen nun empfängt "Anoha" Besucher und, wenn man so will, Schutzsuchende. Denn der Welt geht es bekanntlich schlecht, Klimawandel, Gemeinheit unter den Menschen, es gibt viel zu tun. Und wer soll es richten? Die Kinder selbstverständlich. Schließlich haben sie, logisch, am längsten etwas davon. "Anoha" empfängt die Besucher mit Meereswogen und nass quietschendem Fußboden, und wem da nicht das Wasser bis zum Hals steht, der hat kein Herz. Was muss geschehen, damit die Welt beim nächsten Mal länger hält? Was, damit die Menschheit es nicht wieder verhunzt? Und warum damit überhaupt warten, wäre eine bessere Welt nicht jetzt schon eine feine Sache?

Seit Jahrtausenden erzählen sich Menschen Geschichten von der großen Flut, von Untergang und Wiedergeburt, die Arche-Noah-Variante des Alten Testaments ist eine der eher jüngeren. "Anoha" fußt dennoch auf den jüdischen Gedanken des "Tikun Olam", der Rettung der Welt, für die jeder einzelne die Verantwortung trägt.

Das Designbüro Olsen Kundig aus Seattle hat die gigantische Arche entworfen, sieben Meter hoch, 28 Meter Durchmesser, natürlicher Lichteinfall, natürliche Belüftung. Ein Problem, allerdings: Wenn man es einmal auf die Arche geschafft hat und sich eingerichtet hat neben der Giraffe mit ihrem Saxophon-Kopf und dem Esel mit den Stiletto-Ohren, der Kakerlake, dem Lemur und dem Panda, wenn man einmal drin ist, im Rettungsschiff - man möchte nie wieder fort. Soll doch die Welt retten, wer will. Sonja Zekri

Die Zukunft als Fisch: Franco Battiatos Konzeptalbum "Pollution". (Foto: N/A)

Franco Battiato

Wer wissen will, wie die Postapokalypse klingt, muss Franco Battiato hören. Sein zweites Solo-Album "Pollution" von 1973 ist eines der Meisterwerke jener Ära, in der in Italien so viel gute Musik entstand. "Pollution" ist ein Konzeptalbum. Die von Menschen geschundene Natur - eindrucksvoll dargestellt auf dem Cover - hat Rache geübt und die Welt ist untergegangen. Wo leben? Im interstellaren Raum oder unten auf dem Meeresgrund als genetisch mutierter Fisch? Alles ist fremd, surreal. Aus dem All wabern die Synthesizerklänge, die Trommel spielt kriegerische Beats, es gibt Explosionen, urzeitliches Meeresrauschen, Blubbern und überall Battiatos Stimme: mal wie in einem Choral, mal als Rezitativ, mal drohend tief, dann im Falsett, am Ende weinend - sagenhaft. Der Weg der Avantgarde, den er bald beschritt, ist hier schon zu erahnen, aber "Pollution" ist "nur" progressiv (mit noch rockigen Anteilen). Battiato ist kürzlich gestorben. Deshalb könnte man sein halluzinatorisches Meisterwerk wieder hören. Marc Hoch

In der Nacht eine Königin: Die von Max Dudler gebaute U-Bahn Station Museumsinsel. (Foto: Stefan Josef Mueller)

Zauberflöten-U-Bahn

Der Architekt Karl Friedrich Schinkel hat der Stadt Berlin drei Dinge von offenbar ewiger Zitierfähigkeit hinterlassen: Säulen, Backstein, Sterne. Letztere deswegen, weil er 1815 an der Berliner Oper Bühnenbilder für die "Zauberflöte" schuf, von denen vor allem das für den Palast der Königin der Nacht unvergessen ist: ein preußisch stramm zu Dreierreihen geordneter Sternenhimmel auf tiefblauem Grund. Als der Architekt Max Dudler jetzt die neue U-Bahn-Station "Museumsinsel" gestalten durfte, hätte er also auch auf die Säulen von Schinkels Altem Museum anspielen können, oder auf den Backstein von dessen Bauakademie. Stattdessen kostet es ab sofort den Preis einer Fahrkarte, um in ein tiefblaues Sternenmeer einzufahren. Die neue Station bedient schließlich auch die Staatsoper. Peter Richter

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