Fotografie im Kölner Museum Ludwig:Wer bleibt

Lesezeit: 3 min

Bürgerstolz mit Dunkelholzschrankwand und Klorollenüberzug: Eine Ausstellung zeigt die Selbstdokumentation von Menschen, die man früher Gastarbeiter nannte.

Von Alexander Menden

Ein Fotoapparat. Das war eine der ersten Anschaffungen der 18-jährigen Süheyla Kocatürk, nachdem sie 1969 von Ankara nach München umgezogen war. So konnte sie Bilder an die Verwandten in der Türkei schicken und ihnen zeigen, dass es ihr gut ging im Wohnheim der Siemens-Werke, in denen sie damals arbeitete. Kurz darauf holte sie ihren Mann Dengin nach, der bei einem Bauunternehmen zu arbeiten begann. Dengin Kocatürk nahm die Fotografie sehr ernst: Die zahlreichen Umzüge der Familie innerhalb Deutschlands, einschließlich einer kurzzeitigen Rückkehr Süheylas in die Türkei, dokumentierte er in vielen Bildern. Eines davon zeigt einen Umzug nach Krefeld, wo die Kocatürks schließlich 35 Jahre lang blieben: ein offener Laster, in den acht Männer Hausgeräte einladen.

Besonders viel Aufmerksamkeit schenkte Dengin dem Interieur der Wohnungen: Topfpflanzen, eine Dunkelholzschrankwand, mit grauem samtbezogenen Sessel, ein gehäkelter Klorollenüberzug. Die Ausschnitte sind sehr sorgsam gewählt. Genau wie Belichtung und Winkel. Hier wird selbstgeschaffener Wohlstand dokumentiert, aber auch eine Inneneinrichtung, die Geschmack und Bürgerstolz der Bewohner reflektiert. Bilder, die Dokument und ästhetische Artefakte zugleich sind.

Das Fotoarchiv der Familie Kocatürk ist heute Teil der Sammlung des "Dokumentationszentrums und Museums über die Migration in Deutschland", kurz Domid. Die Sammlung befindet sich in Köln, in dessen Stadtteil Kalk derzeit ein permanentes Museum für "150 000 sozial-, kultur- und alltagsgeschichtliche Zeitzeugnisse" entsteht, die sich im Besitz des Vereins befinden. Aus dem Domid-Archiv stammt auch ein Großteil der Fotos, die das Kölner Museum Ludwig derzeit in seiner Ausstellung "Vor Ort - Fotogeschichten zur Migration" zeigt.

Die Schau bietet einen hochinteressanten Einblick in die Selbstdokumentation von Menschen, die früher "Gastarbeiter" genannt wurden. Infolge von Anwerbeabkommen - jenes mit der Türkei wurde vor genau 60 Jahren geschlossen - kamen von 1955 bis 1973 vornehmlich aus Italien, Griechenland und der Türkei aber auch aus anderen europäischen Ländern, Männer und Frauen im arbeitsfähigen Alter in die Bundesrepublik Deutschland. Der hatte es, wegen sinkender Geburtenzahlen und der Lücke, die der Weltkrieg in mehrere Generationen gerissen hatte, an genau solchen Arbeitern gemangelt.

Die Bilder strahlen ein großes Selbstbewusstsein aus

Insgesamt 16 dieser Menschen, die damals die westdeutsche Wirtschaft mit am Laufen hielten, wurden exemplarisch herausgegriffen, um anhand ihrer Fotos und persönlichen Geschichten diese Phase der Nachkriegsgeschichte in individualisierter Form zu erzählen. Geschichten wie die Asimina Paradissas, die als Landwirtstochter in Griechenland im Steinbruch gearbeitet hatte, bevor sie mit 19 Jahren nach Wilhelmshaven zog, um dort in der Schreibmaschinenfabrik Olympia anzuheuern. Paradissa hatte bereits in Griechenland dem örtlichen Fotografen in der Dunkelkammer geholfen. Ihre Fotokenntnisse sprachen sich herum, und schon bald baten ihre Kolleginnen sie, Hochzeiten und Familienfeste zu dokumentieren.

Paradissa selbst präsentiert sich auf einem von einer Kollegin aufgenommenen Bild aus dem Jahr 1966 vor dem Wilhelmshavener Frauenwohnheim lachend, in heroischer Untersicht, einen Fuß auf ein kleines Mäuerchen gestellt. Später zeigt sie Arbeiterinnen des Automobilzulieferbetriebs Bomoro in Wuppertal, wo sie bis heute lebt.

Diese Bilder strahlen ein ähnliches Selbstbewusstsein aus wie die Onur Dülgers, der aus Reiselust, nicht aus wirtschaftlichem Druck heraus, 1961 nach Deutschland kam. Der Sohn eines Hoteliers brauchte kein Geld, er wollte Deutschland und die angrenzenden Länder kennenlernen. Er hörte Paul Anka und Nana Mouskouri ("Für türkische Musik hatte ich kein Interesse."), arbeitete in Köln bei Ford, fuhr mit zwei Kollegen durch Belgien und Frankreich. Ein besonders dynamisches Bild zeigt ihn vor dem Ford-Arbeiterwohnheim, kurz bevor er seine deutsche Frau Monika gegen alle Widerstände standesamtlich heiratete.

Wenig von dem, was man hier sieht, entspricht dem damals (und oft noch heute) standardmäßigen Narrativ der angeblichen "Andersartigkeit", dem man in den Dokumenten über Migration durch deutsche Medien, Gemeinden und Arbeitgeber begegnet. Dort, oder im Blick von Fotografen wie Heinz Held oder Candida Höfer. Deren Fotos, zu großen Teilen aus der Sammlung des Museums selbst, sind den Privatbildern gegenübergestellt.

Die Wohnheime sind dort oft nur als Architekturstudien dokumentiert, professionelle Fotoserien zeigen die Migranten-Viertel als exotische Zonen. Das Werksmagazin eines Arbeitgebers greift tief in die Klischeekiste: "Weniger hitzköpfig als die Italiener, sind die Griechen umso glücklicher, je mehr sie auf der hohen Kante wissen. 'Wir denken an die Zukunft', deutet Stavros das Bemühen seiner Landsleute, mit 100 DM auszukommen, um als vermögender Mann in die Heimat zurückzukehren."

Die Idee eines vorübergehenden Aufenthalts bestimmte lange Zeit die Politik und manifestierte sich 1983 zu Beginn der Ära Helmut Kohl im sogenannten Rückkehrhilfegesetz. Angesichts steigender Arbeitslosigkeit unter deutschen und ausländischen Arbeitnehmern förderte der Staat die Rückkehr der Familien in ihre Herkunftsländer. Die Arbeiter verzichteten mit der Annahme der Rückkehrhilfe aber auch weitgehend auf ihre deutschen Rentenansprüche.

Die Tatsache, dass gerade in Köln, der Stadt, der in dieser Ausstellung die Hauptaufmerksamkeit gilt, längst eine Verwurzelung der Migranten stattgefunden, die demografische Struktur sich unumkehrbar erweitert hatte, berücksichtigte diese Gesetzgebung überhaupt nicht. Und wie sehr die Biografien, die hier gezeigt sind, dezidiert westdeutsche Biografien sind, erfährt, wer den Fotografinnen und Fotografen zuhört. Die Kuratorinnen Barbara Engelbach und Ela Kaçel lassen sie in Interviews ausführlich zu Wort kommen. Gesprochene Memoiren, individuell und doch exemplarisch. Es ist ein großes Verdienst der Schau, dass sie eine historische Ressource visuell wie verbal nutzt, die in Zukunft noch stärker Teil der deutschen Selbstbetrachtung werden muss.

Vor Ort: Fotogeschichten zur Migration im Museum Ludwig, Köln, bis 3. Ok­to­ber. museum-ludwig.de. Katalog 25 Euro.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Gilles Peress: "Whatever You Say, Say Nothing"
:Die Zeit vergeht mit Gewalt

Die Dokumentation des Magnum-Fotografen Gilles Peress über den Nordirlandkonflikt als monumentaler Fotoband.

Von Alex Rühle

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: