Fotograf Mirko Martin über "L.A. Crash":Alles ist Bühne

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Fotograf Mirko Martin im Gespräch über den bizarren Wechsel zwischen Fiktion und Realität, außergewöhnliche Menschen in einer materialistischen Welt. Und warum uns die Bilder des Gewinners des "Talents"-Wettbewerbs merkwürdig bekannt vorkommen.

Melanie Martin

Auf den Straßen von Los Angeles: Razzien und Verhaftungen. Unfälle und Verletzte. Glamour und Obdachlose. Alltag in der Metropole. Aber wieso brennt der Mann, der dort über die Straße läuft? Wo sind die Beteiligten eines offensichtlichen Autounfalls hin? Wieso liegen Menschen mitten auf dem Gehweg? Und warum widmen die Passanten all diesen Katastrophen keine Aufmerksamkeit?

In Mirko Martins Fotos aus der Serie "L.A. Crash" tauchen immer wieder unerklärliche Situationen auf. Sind die Motive noch real oder doch schon inszeniert? Der Berliner Fotograf, Jahrgang 1976, spielt mit Voyeurismus und Erwartungen, wenn in seinen Bildern Dokumentation und Inszenierung aufeinander prallen. Er mischt ganz normale Straßenszenen aus L.A. mit Fotos von Filmaufnahmen, die in der Millionen- und Medienmetropole mittlerweile ebenfalls zum Alltag gehören. So wirkt die Realität in seinen Fotos genauso theatralisch wie die dramatisch ausgeleuchteten Filmsets Hollywoods. Alles wird zur Bühne - und wirkt in seinem Spannungsfeld zwischen Realität und Fiktion so sachlich wie gruselig.

Zusammen mit der Kunstkritikerin Melanie Martin, Jahrgang 1980, ist er das 25. "Talent" im Nachwuchswettbewerb des jungen Fotomuseums "C/O Berlin" und stellt seine Serie von heute Abend an, Freitag, 7. Oktober, 19 Uhr, noch bis zum 6. Oktober in den Räumen des Museums in der Oranienburger Straße 35 aus.

Melanie Martin: Du bist 2005 zum ersten Mal nach Los Angeles gekommen, mittels eines Stipendiums für das California Institute of the Arts. Warum Los Angeles?

Mirko Martin: Ich hatte schon während des Kunststudiums in Deutschland Fotos und Videos gemacht, bei denen mich interessierte, was man an einer Person als authentisch und was als Ausdruck einer Rolle oder als Klischee wahrnimmt. Dafür bin ich an verschiedene Orte in Spanien und Marokko gefahren, die ich von früheren Reisen her kannte, und an denen ich eine Kombination aus Konfliktpotenzial, Exzentrik und Künstlichkeit bemerkt hatte. Zum Beispiel ein Fernfahrertreffpunkt bei Gibraltar, eine Discomeile in Benidorm oder ein Marktplatz in Marrakesch. Da hatte ich schon oft Menschen gesehen, die sich auf theatralische Weise selbst inszenierten. Besonders spannend fand ich die Momente des Übergangs zwischen authentischem Ausdruck und Inszenierung. Das war ausschlaggebend für meine Entscheidung, ein Jahr nach Los Angeles zu gehen, weil es ein Ort ist, an dem Rollenbilder erzeugt und verbreitet werden. Ich war neugierig, wie sich die Fiktionen der Filmindustrie im Alltagsleben der Stadt bemerkbar machen würden.

Melanie Martin: Seitdem warst Du mehrmals in der Stadt, und sie hat Dich zu einer Vielzahl von Arbeiten inspiriert. Was fasziniert Dich so an ihr?

Mirko Martin: Ich war von Anfang an beeindruckt von ihrer Größe, der Vielfalt ihrer Bewohner, dem Durcheinander der vielen Ausdrucksformen, Sprachen, Lebensweisen. Das Leben dort schien mir sehr offen, intensiv und kontrastreich zu sein. Ich schätze auch die inszenatorischen Qualitäten - dass zum Beispiel viele Menschen aus ganz alltäglichen Situationen eine Show machen. Außerdem wirken die Straßen in manchen Gegenden eigenartig vertraut, weil man ihre Ästhetik aus Filmen kennt, was für mich wie eine Art Déjà-Vu-Erlebnis war. Trotzdem blieb mir vieles fremd, vor allem im Umgang der Menschen untereinander. Die amerikanische Kultur erscheint mir nah und fern zugleich. Das finde ich reizvoll. Und dann ist das Licht dort einfach wunderbar. Morgens ist es oft diffus, tagsüber sehr hart und gegen Abend wird es weich und golden. Allerdings kann die Stadt auf Dauer auch sehr anstrengend sein - und es ist letztlich eine sehr materialistische Welt.

Melanie Martin: Deine Fotoserie L.A. Crash lässt einen über Realität und Fiktion sowie über Dokumentar- und inszenierte Fotografie nachdenken. Wie entstand das Projekt?

Mirko Martin: Es dauerte lange, bis ich in Los Angeles fotografieren konnte und wusste, worauf ich in dem ganzen Trubel meine Kamera richten wollte. Bei meinen Gängen durch Downtown stieß ich immer wieder auf Filmsets. In L.A. wird ständig und überall gefilmt. Da es nicht viele urban aussehende Gebiete gibt, die Handlung von Filmen aber meist in Städten spielt, wird besonders oft in den Hochhausschluchten von Downtown gedreht. Die Inszenierungen waren oft sehr actionreich, und anfangs habe ich einfach touristische Erinnerungsfotos gemacht. Als ich die Bilder später sah, dachte ich, es könnte interessant sein, die Szenen so aufzunehmen, dass dem Betrachter das Wissen verborgen bleibt, dass es sich Schauspieler handelt. Im Laufe der Zeit fiel mir auf, dass sich einige der Filmszenen in realen Vorkommnissen spiegelten. Das fand ich bizarr. Ich sah gespielte wie echte Autounfälle, Verhaftungen oder Brände im selben Gebiet. Außerdem war das Verhalten von vielen Leuten auf der Straße so expressiv, dass reale Situationen manchmal einem Theaterstück glichen. Also machte ich davon auch Aufnahmen, und so entwickelte sich das Projekt zu einer Art Verwirrspiel um Realität und Fiktion, wobei sich der Fokus im Laufe der Zeit mehr auf die realen Situationen verlagert hat. Ich habe in vielen Stadtteilen fotografiert, aber in Downtown verdichten sich die Geschehnisse am meisten.

Melanie Martin: Wie gehst Du bei der Suche nach Deinen Motiven genau vor?

Mirko Martin: Ich suche immer nach atmosphärisch dichten Situationen. Dafür bin ich meistens in sehr belebten Straßen unterwegs, um Motive ausfindig zu machen, die viele erzählerische Details und Bedeutungen anbieten und dadurch filmisch wirken. Außerdem finde ich die Ränder von Ereignissen und Orten oft interessant. Downtown L.A. besteht zum Beispiel aus sehr unterschiedlichen Bezirken: Es gibt Wohnbereiche mit teuren Lofts, Gebiete, in denen Obdachlose leben, große Einkaufsstraßen, ein Industriegebiet usw.; alles ist relativ getrennt und darin leben und arbeiten die verschiedensten sozialen und ethnischen Gruppen. An den Rändern kann man dann oft spannende Interaktionen beobachten. Das gilt auch für die Ränder von Filmsets. Manchmal wird zum Beispiel ein Scheinwerfer zur Seite gedreht und beleuchtet kurz den Bürgersteig. Passanten gehen dann durch dieses Licht und werden angestrahlt, als stünden sie plötzlich auf einer Bühne. In Downtown gibt es jede Menge außergewöhnliche Menschen, deren wechselvolles Leben Spuren auf den Gesichtern hinterlassen hat. Manchmal liegt nur für einen kurzen Moment eine Theatralik in einem Gesicht. Den versuche ich, im Bild festzuhalten.

Melanie Martin: Siehst Du Deine Arbeit eher im Feld der klassischen Reportage- und Straßenfotografie oder in der inszenierten Fotografie?

Mirko Martin: Es ist eine Hybridform, würde ich sagen. Straßenfotografie ist von der Praxis und Motivation her im Grunde das, was ich mache: offenen Auges durch die Stadt zu gehen, zwar mit einem Konzept im Hinterkopf, aber mich doch davon überraschen zu lassen, was der Tag bringen wird. Ohne dieses Überraschungsmoment würde mir die Arbeit keinen Spaß machen. Ständig geraten absurde Dinge mit ins Bild, die ich mir nicht hätte ausdenken können. Weil ich auch Inszenierungen der Filmindustrie als Bildquelle nutze, gibt es Referenzen zur inszenierten Fotografie, aber ich inszeniere ja nicht selbst.

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