Filmfestival:Carlo Chatrian soll Chef der Berlinale werden

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Carlo Chatrian wurde 1971 in Turin geboren. Er leitet seit 2012 das Festival von Locarno. Dort wahrt er eine gute Balance zwischen Hollywoodglamour und Filmexperimenten. (Foto: Urs Flueeler/dpa)

Bislang leitete der Italiener das Filmfestival von Locarno. In Berlin wird er wohl Teil einer Doppelspitze sein.

Von David Steinitz

Der Italiener Carlo Chatrian hat eine Stärke, die für die Führung eines Filmfestivals recht nützlich, aber unter Festivalmachern leider keine Selbstverständlichkeit ist: Er versteht etwas von Filmen.

Wie Bild und B.Z. berichten, soll der 46-Jährige neuer künstlerischer Leiter der Berlinale werden und Dieter Kosslick, 70, beerben, dessen Vertrag 2019 ausläuft. Die Personalie wird offiziell erst Freitagmittag bekannt gegeben, wenn der Aufsichtsrat der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin (KBB) tagt, der für die Neubesetzung zuständig ist. Eine Findungskommission unter Leitung von Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) wird dem Gremium einen Vorschlag unterbreiten, dem dieses zustimmen muss. Sollte Carlo Chatrian tatsächlich ein Kandidat sein, benötigt er also noch dessen offizielle Bestätigung. Von Grütters gab es zu der Personalie bislang keinen Kommentar.

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Dass der Name bereits durchgesickert ist - vermutlich aus Kreisen der Berliner Lokalpolitik -, überrascht auch den zuständigen Aufsichtsrat. Auf Anfrage sagte ein Mitglied der SZ, dass man von Chatrian auch erst durch die Presseberichte erfahren habe. Außerdem handelt es sich bei dem Italiener voraussichtlich erst um die halbe Berlinale-Neubesetzung, denn Monika Grütters hat bereits im Vorfeld angekündigt, dass ihr eine Doppelspitze aus Festivalpräsidentschaft und künstlerischer Leitung vorschwebt. Es wird damit gerechnet, dass der zweite Posten an eine Frau aus der deutschen Filmbranche geht. Wer in einer solchen Konstellation mit wie viel Macht ausgestattet wird, ist noch unklar. Aber sollte Chatrian am Freitag berufen werden, stellt sich natürlich die Frage, was für eine Agenda der Mann hat.

Chatrian sagt, dass er sich lieber hinter die Filmemacher stelle als vor sie

Er wurde 1971 in Turin geboren und studierte später dort sowie in Paris Philosophie und Literatur. In der Filmbranche machte er sich zunächst einen Namen als Filmkritiker und -historiker. Er schrieb für Zeitschriften und veröffentlichte Aufsätze und Bücher, zum Beispiel über Sam Peckinpah und Wong Kar-Wai oder über die japanische Mangakunst im Kino. Außerdem arbeitete er als Berater des Schweizer Filmarchivs in Lausanne und stieß schon vor Jahren zum Festival in Locarno, wo er lange die Retrospektiven betreute, zum Beispiel zu Otto Preminger und Michael Cimino.

2012 kündigte der damalige Leiter des Festivals, der Franzose Olivier Père, der gerne im weißen Anzug über die Piazza Grande stolzierte. Die Festivalkommission berief zur Überraschung vieler keinen prominenten Nachfolger, sondern den unbekannten Chatrian. Und der sagte schon damals, dass er sich lieber hinter die Filmemacher stelle als vor sie. Was für Berlin, wo derzeit noch Dieter Kosslick auf dem roten Teppich medienwirksam Hollywoodstars abbusselt, schon formal eine interessante Neuerung sein könnte. Wobei Chatrian sich mit einer ganz neuen Festivalatmosphäre vertraut machen müsste. Denn ein Sommerfestival im Tessin ist natürlich etwas anderes als Berlin im Februar, wo die Besucher schlecht gelaunt und erkältet über den zugefrorenen Gentrifizierungsunfall namens Potsdamer Platz schlittern.

Inhaltlich könnte Carlo Chatrian ohne Frage eine große Bereicherung für die Berlinale sein, die sich unter Kosslick gerade im Wettbewerb in den letzten Jahren ziemlich festgefahren hat. In Berlin bestand dieser Wettbewerb zuletzt meist aus Sozialdramen mit wenig subtiler politischer Botschaft, ergänzt durch drei, vier Hollywood- oder Autorenfilmstars, die es zufällig nicht nach Cannes geschafft hatten.

Währenddessen hat sich Chatrian in Locarno zum Festivalleiter mit exzellentem Ruf gemausert, der stets eine gute Mischung aus Populärkino und neuen Talenten zusammenbekommt. Auch an formalen Experimenten ist er interessiert, weil ihn klassische Erzählkonventionen eher anöden. Kürzlich sagte er in einem Interview: "Ich glaube, es ist nicht meine Pflicht, im Wettbewerb die Art von Filmen zu zeigen, die das Publikum bereits kennt."

Er hat einen weit gefassten Begriff von Kino und steht den neuen Entwicklungen mit gebotener Skepsis, aber auch großem Interesse gegenüber, gerade was Streamingdienste wie Netflix angeht. Video on Demand und Kino können sich in seinen Augen im richtigen Kontext ergänzen.

Sein Auftreten in Locarno wurde stets als selbstbewusst und entspannt, aber nie aufmerksamkeitsheischend wahrgenommen. Um die 1000 Filme sichtet er pro Jahr, und wenn er nicht gerade für das Festival unterwegs ist, scheint sein Glamourbedürfnis eher gering zu sein. Bislang lebt er mit seiner Familie in einem kleinen Bergdorf im italienischen Aostatal. Seine Kinder, berichtete er einmal, würden ihn gerne ironisch "direttorone" nennen - den großen Direktor.

© SZ vom 21.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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