Filmfest München:Shakespeare würde Krimis schreiben

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Szene mit Luca Zamperoni (li.) und Hilmar Eichhorn aus "Für immer ein Mörder - Der Fall Ritter" (Foto: Filmfest)

Tabus, Brisanz und zarte Liebe: Auf dem Filmfest München flirten deutsche Fernsehkrimis mit der großen Leinwand. Sie wagen sich an wahre Begebenheiten heran - und lassen alte "Tatort"-Standards ziemlich angestaubt aussehen.

Von Rainer Gansera

Wie setzt sich ein Ermittlerkrimi in Gang? Zuerst wird die Leiche präsentiert, das Opfer einer Gewalttat. Dann nahen die ermittelnden Beamten, plaudern über Alltägliches, die Spurensicherung ist bereits am Werk, erste Laborergebnisse werden erwartet, die Suche nach dem Täter mit dem passenden Motiv beginnt. Zuerst also das schockierende Bild, dann der rationale Diskurs. Aus der abgründigen Tat wird ein abgezirkelter Fall, der seiner Aufklärung harrt.

Der Krimi ist ein Kind der Aufklärung, getragen von dem Glauben an die Möglichkeit, das Irrationale rational einzuhegen. Das Irrationale, Unheimliche, zutiefst Beunruhigende, das der Krimi domestizieren soll, entspringt nicht nur fatalen Motiven wie Habgier oder Eifersucht, sondern hat mit zwei mächtigen, anarchischen Triebsphären zu tun, der Sexualität und der Aggression, von denen sich die prekäre gesellschaftliche Ordnung immer bedroht fühlt. Unter dem dünnen Firnis der Zivilisation lauert das, was den Menschen zum unberechenbaren und abgründigen Wesen macht. So gesehen ergibt sich der Siegeszug des Krimi-Genres auf dem Buchmarkt und im Fernsehen aus einem Selbstberuhigungsbedürfnis der Gesellschaft, die sich rational definieren möchte. Und dieser Selbstberuhigungsbedarf wächst.

Die Grenzen des Ermittlerkrimis sprengen

Der Krimi-Anteil im Fernsehprogramm nimmt stetig zu. Das spiegelt sich seit Jahren in der Reihe "Neues deutsches Fernsehen" des Münchner Filmfests. In diesem Jahr sind mehr als die Hälfte der achtzehn ausgewählten Fernsehfilme explizite Krimis oder krimikompatible Dramen. Längst ist es Usus für ambitionierte Regisseure, sich an dem Genre zu erproben, und das Ergebnis sind Fernsehkrimis, die ihren Ehrgeiz daran setzen, die Grenzen des landläufigen Ermittlerkrimis zu sprengen. Es gibt Blicke in Düsternisse, die beunruhigend bleiben, es mehren sich die Inversionen, die den Ermittler selber zur Problemfigur machen, vor allem spielt man gern mit Reminiszenzen ans Kino. Als wäre die geheime Sehnsucht des Fernsehfilms die große Leinwand.

Kurzkritiken zu den Kinostarts der Woche
:Retro-Klamauk und viel Klischee

Unschlüssige Dreißigjährige in "2 Herbste 3 Winter", pubertäre Männer in "Große Jungs" und viel Bayern in "Nebenwege", wo es mit der alzheimerkranken Oma nach Altötting geht. Für welche Filme sich der Kinobesuch lohnt - und für welche nicht.

Von den SZ-Kinokritikern

Die wildeste Hommage ans Kino kompiliert Florian Schwarz in seinem "Tatort - Im Schmerz geboren". Kann man einen kleinen hessischen Güterbahnhof wie die Showdown-Kulisse eines Italowestern aussehen lassen? Florian Schwarz demonstriert es gleich beim Intro, in dem er die ersten drei von insgesamt vierzig Leichen liefert. Auch große Opern und Shakespeare-Dramen werden zitiert, denn der Erzähler - er spricht aus dem Jenseits - leidet am Stendhal-Syndrom, das heißt: an psychosomatischen Störungen bei kultureller Reizüberflutung. Ein kurios und spektakulär ausgedachtes Zitate-Delirium, das die Tatort-Ermittler-Standards wie überflüssige Pflichtübungen erscheinen lässt.

Entdeckung verdrängter Wirklichkeiten

In seinem "Die reichen Leichen - Ein Starnbergkrimi", dessen erste Wasserleiche natürlich ein Wiedergänger des Märchenkönigs Ludwig II. sein muss, erlaubt sich Dominik Graf Kinofantasie-Ausschweifungen, wenn er Königstreue wie in einem Ku-Klux-Klan-Movie mit spitzen Kapuzen und brennenden Kreuzen ins Bild setzt. Ein Phantasma, so hübsch anzuschauen wie zerplatzende Seifenblasen.

Die große Überraschung der Reihe sind Filme "nach wahren Begebenheiten". Packende Krimis oder Dramen, die ins Herz brisanter Themen zielen und ihre Phantasie in der Entdeckung verdrängter Wirklichkeiten entfalten. Allen voran Christian Wagner mit "Das Ende der Geduld", der das Schicksal der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig nachzeichnet, übersetzt in die fiktive Gestalt der Corinna Kleist (Martina Gedeck). Wagner setzt hinter die offizielle Darstellung ihres Todes als Selbstmord ein riesengroßes Fragezeichen. Er macht klar, wie die Richterin auf die Abschlussliste libanesischer Clans gerät, wenn sie darum ringt, dass im Ämtergeflecht von Polizei-Jugendamt-Schule-Justiz die Gefährlichkeit der Clans überhaupt erst wahrgenommen wird.

Ein aufrüttelndes Drama, das durch Martina Gedecks feinnervige Darstellungskunst zum Ereignis wird. Jahrzehntelang war im deutschen Fernsehkrimi das organisierte Verbrechen ein Tabu. Kommissar Derrick hatte nie mit mafiösen Organisationen zu tun. Dieses Tabu besteht mittlerweile nicht mehr, aber noch nie wurden Strukturen organisierten Verbrechens in ihrer gesellschaftlichen Brisanz derart eindringlich gezeichnet.

Von der bitter notwendigen Wahrnehmung verdrängter Wirklichkeit erzählt auch Christoph Röhl in "Die Auserwählten". Es geht um den sexuellen Missbrauch von Schülerinnen und Schülern an der Odenwaldschule. Ans Licht gebracht erst nach dreißig Jahren durch das mutige Engagement von Betroffenen. Im Rückblick wird mit größter emotionaler Wucht offenbar, wie sich hinter der Fassade einer reformpädagogischen Vorzeigeanstalt die Tyrannei eines pädophilen Schulleiters entfalten konnte. Brillant: Julia Jentsch in der Rolle der einzigen Lehrerin, die sich um die Nöte der Jugendlichen kümmert und gegen eine Mauer aus Wegschauen, Leugnen und Einschüchterung ankämpft.

Und noch eine augenöffnende Geschichte vom Anrennen gegen Mauern des Verschweigens: Johannes Griesers "Für immer ein Mörder - Der Fall Ritter". Hier sind es die alten DDR-Seilschaften von Stasi und Polizei, die ein Verbrechen unter den Teppich kehren wollen. Auf der Erzähloberfläche ein klassischer Ermittlerkrimi, aber keiner, der mit einem aufgeklärten Fall beruhigen will. Mit röntgenblickartiger Präzision erzählt Grieser davon, wie aus Vorurteil, Ressentiment und Anmaßung Unrecht entsteht und fortdauert.

Einen Polit-Krimi im Komödiengewand könnte man Christian Schwochows "Bornholmer Straße" nennen: die "unglaubliche aber wahre" Geschichte von Oberstleutnant Harald Schäfer, dem Mann, der die Berliner Mauer öffnete (siehe auch SZ vom 28. Juni). Schwochow gelingt das Kunststück einer Balance von Komödienton und politischem Ernst. Er dramatisiert das Hin und Her an der Wachstation, bis man sich fragt, ob es hier wirklich noch ein Happy End geben kann.

Bettszenen in der High Society

Angesichts dieser virtuos in Szene gesetzten wahren Begebenheiten verblassen die Gesellschaftsdramen der Reihe. Sie erzählen meist von Ehebrüchen und den Skandalen, die sich daraus ergeben. Sie finden in High-Society-Sphären statt, bieten reichlich Bettszenen und Großaufnahmen von Fingernägeln, die sich ins Fleisch krallen, zelebrieren eine Als-ob-Leidenschaft - und muten wie Deluxe-Soaps in Villen und Bürohochhäusern an.

Vergeblich sucht man nach einer wahrhaftigen Liebesgeschichte - und findet sie dann doch. Wie könnte es anders sein, in einem Krimi, in Alexander Adolphs "Polizeiruf 110 - Morgengrauen". Herzergreifend schön, wie Matthias Brandt und Sandra Hüller hier zwei einsame Seelen verkörpern, die sich schüchtern aneinander herantasten. Der Hauptkommissar und die Oberregierungsrätin: eigentlich sind sie rätselhaften Selbstmordfällen auf der Spur, aber ihre Liebesgeschichte sprengt alle Schematik eines Ermittlerkrimis.

© SZ vom 04.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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