Eurovision Song Contest:Sehnsucht nach Europa

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Europa ist ein vielschichtiger und in sich widersprüchlicher Kontinent, dem ein gut gemeinter Schlagerwettbewerb nicht zu einer Identität verhelfen kann - die Popgeschichte des 20. Jahrhunderts fehlt.

Andrian Kreye

Es ist relativ leicht, sich über einen Komponistenwettbewerb lustig zu machen, bei dem sich osteuropäische Schlagercombos mittleren Alters etwas ungelenk an Rock-Genres versuchen, die einst vom jugendlichen Ungestüm authentischer Subkulturen getrieben wurden, und Lokaldiven die Toleranzgrenzen des Modebewusstseins strapazieren. Nun rangierte das kulturtheoretische Interesse am Eurovision Song Contest schon immer irgendwo zwischen dem augenzwinkernden Kitschverständnis aus Susan Sontags Essay "Notes on Camp" und einer fundamentalen Verachtung für europäische Massenkultur, die mit dem Kanon der angelsächsischen Vorbilder nur selten mithalten kann.

Eurovision Song Contest
:Das große Mysterium

Irre Iren mit tollen Tollen. Stefan Raab hinterm Schlagzeug. 43 Lenas auf der Bühne. Und eine Gruppe aus Baku, die von sich selbst überrascht ist. Das war der 56. Eurovision Song Contest.

In Bildern.

Dabei ist der Schlagerwettbewerb natürlich gerade deswegen interessant, weil er sich eben nicht auf den angelsächsisch gefärbten Minderheitengeschmack gebildeter Stände einlässt. Die suchen im Pop immer noch die Relevanz eines Bob Dylan und die erzählerische Vielschichtigkeit von Hollywoodfilmen. Der Eurovision Song Contest bildet dagegen europäische Befindlichkeiten ab, die längst komplexer sind, als jeder amerikanische Actionfilm, der seine Effekte mit Anspielungen auf Philosophie und antike Sagenwelt durchwebt.

Sicherlich ist mit dem diesjährigen Sieg von Ell und Nikki aus Aserbaidschan erst einmal die Frage relevant geworden, ob die europäische Kontinentalplatte nun am Ural endet, oder doch erst hinter den vorderasiatischen Ölfeldern. Diese Frage kann man entweder bürokratisch beantworten, weil jedes der 56 Mitgliedsländer der Europäischen Rundfunkunion EBU auch am Wettbewerb teilnehmen darf. Und zur EBU gehören inzwischen auch Teile Nordafrikas und Vorderasiens. Oder man wischt sie mit Bernard-Henri Lévys Zitat vom Tisch, Europa sei kein Ort, sondern eine Idee. Nimmt man den Eurovisions-Contest als populäres Abbild dieser Idee, dann wurde am Sonntag schon nach den ersten Beiträgen deutlich, wie es um den europäischen Pop des Jahres 2011 steht.

Prinzipiell steht es um den gar nicht so anders, wie 1956, als der Wettbewerb in Lugano mit sieben Teilnehmerländern zum ersten Mal ausgetragen wurden. Der europäische Schlager war damals schon ein regionales Phänomen, das letztlich immer der Versuch blieb, Volksmusik mit modernen Stilmitteln zu machen. Was dem europäischen Pop immer fehlte, war das solide Fundament des amerikanischen Vorbilds in der eigenen Geschichte. Denn dem europäischen Pop fehlt historisch gesehen die Frühphase der Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Da war die Popkultur vor allem ein stiefmütterlich behandeltes Mittel der Nazidiktatur, sich die Massen gewogen zu machen.

Mit der Osterweiterung der Europäischen Rundfunkunion im Jahre 1990 hat sich dieses Problem für den Eurovision Contest noch einmal verschärft. Nun fehlen dem europäischen Pop nicht nur die Jahre bis 1945, sondern einem großen Teil seiner Mitglieder auch noch die Jahre bis 1989. Im Sozialismus mag Rockmusik eine ähnliche Funktion gehabt haben wie Jazz unter den Nazis - sie war ein verbotenes Medium der Sehnsucht nach Freiheit. Nach dem Fall der Mauer aber blieb europäischer Pop im Osten genauso eine kulturelle Travestie, wie im Nachkriegswesten. Deswegen wird der Schlagerwettbewerb seit Jahren mit unbeholfenen Rock-Acts geflutet, die mit dem sympathischen Kitsch der frühen Eurovisionsjahre nur wenig zu tun haben. Dass die Veranstalter nun versuchen, mit Popgenres wie den Coldplay-Epigonen aus Dänemark oder einem Star von internationalem Format wie Lena auch jüngere Zuschauer zu gewinnen, verwässert das Bild vom europäischen Pop zusätzlich.

Was bleibt ist eine Popkultur, die vor allem als Eskapismus aus der eigenen Geschichte fungieren soll. Was die mediterranen Lieder der fünfziger Jahre für das befreite Westeuropa waren, ist der Rock für die ehemaligen Ostblockländer - eine Pose ohne kulturelles Fundament und somit nicht mehr als ein Spiel mit Genres.

Richtig interessant wird es aber erst im zähen Teil der Veranstaltung, wenn alle Lieder gesungen und alle Publikumsstimmen abgegeben sind. Da vollzieht sich vor den Augen der Fernsehzuschauer ein Abstimmungsprozedere, das schwieriger nachzuvollziehen ist, als amerikanische Präsidentschaftswahlen. Da vermischen sich Geopolitik, die Last der Geschichte und die kulturellen Missverständnisse zu einer undurchsichtigen Rangliste, die sich im Laufe der 43 Stimmabgaben so dramatisch oft neu mischt, dass es mit der Musik nur wenig zu tun haben kann.

Dass der griechische Teil Zyperns regelmäßig viele Punkte für Griechenland vergibt, gilt als ausgemachte Sache, genauso wie die osteuropäischen Länder prinzipiell zu ihren Nachbarn stehen. Aber ist zum Beispiel die Tatsache, dass Weißrussland dieses Jahr nur fünf von zwölf Punkten an Russland vergeben hat nicht eine Versöhnungsgeste für den gar so nationalistisch gesinnten Diktator Lukaschenko? Waren die vielen Punkte Hollands für Bosnien Herzogevina eine späte Rüge für die europäische Balkanpolitik? Sollten die Null Punkte Israels für Lena nicht Grund zur Sorge um die deutsche Nahostpolitik sein? Und ist der dritte Platz für den schwachen Schweden nicht letztlich nur Ausdruck der Sehnsucht nach einem Staat, der so oft als Vorbild für eine funktionierende soziale Marktwirtschaft gehandelt wird?

Eines bleibt - Europa ist ein vielschichtiger und in sich widersprüchlicher Kontinent, dem auch ein gut gemeinter Schlagerwettbewerb nicht zu einer Identität verhelfen kann. Die Feinheiten der Einzelabstimmungen beim Eurovision Song Contest könnten den Lehrstuhl einer politologischen Fakultät bis zum nächsten Jahr beschäftigen. Da wird dann in Baku gesungen. Das gehört nun kulturell offiziell zu Europa, ob es dem Rest des Kontinents passt oder nicht. An der Musik lag es wie gesagt nicht. Die Dame und der Jüngling konnten ebenso wenig intonieren, wie der Song überzeugte. Rumänien, Italien und Lena waren musikalisch mit Abstand besser. Im Sinne der Nouvelle Philosophie Bernard-Henri Lévys war es aber kein Sieg für Ell und Nikki, sondern ein Sieg für den europäischen Traum, der sich im Osten schon lange vom American Dream emanzipierte. Und aus dem muss ja nicht gleich eine gemeinsame Identität werden.

© SZ vom 16.05.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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